„Eine Depression ist ’ne sehr, sehr einsame Kiste“

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„Schöne Grüße aus der Klapse“ – so ungefähr war der Text zu einem Foto, das meine Freundin Jasmin vor einiger Zeit auf ihrem Facebook-Profil gepostet hat. Ich kenne Jasmin ein bisschen und weiß, dass sie Dinge offensiv angeht. Und deshalb wusste ich sofort: Das ist kein schlechter Witz. So direkt nachfragen, was da los ist, wollte ich aber auch nicht. Denn ich war mir sicher: Es gibt jetzt Dinge, die sind definitiv wichtiger, als meine Neugier zu befriedigen.

Drei Monate hat sich Jasmin in einer Kölner Psychiatrie teilstationär behandeln lassen. Für viele Menschen ist es – auch heute noch – ein riesiger Schritt, sich psychologische Hilfe zu holen. Mal ganz davon abgesehen, dass überhaupt erstmal ein Psychologe gefunden werden muss. Aber in eine Psychatrie zu gehen, das ist nochmal eine ganz andere Nummer. Von Freunden bekommt Jasmin oft Bewunderung für die mutige Entscheidung, die sie getroffen hat. Nur hat es sich für sie gar nicht wie eine Entscheidung angefühlt. Es war ihre einzige Chance zu leben – und vielleicht auch zu überleben.

„Im Endeffekt ist das keine Entscheidung, die man wirklich selber bewusst trifft. Ich glaube, ich hatte einfach gar keine Wahl.“

Jasmin Faust

Es ist das dritte Mal, dass sie im Laufe ihres Lebens an einer Depression erkrankt. Jasmin spricht von ihrer dritten Episode. Und obwohl sie bereits wusste, wie sich eine Depression anfühlt, was das heißt und was mit ihr passiert – die dritte Episode hat sie tatsächlich nicht kommen sehen. Warum, kann sie auch nicht so richtig erklären. Vielleicht ist es die Angst, die dazu führt, dass man es einfach nicht wahr haben will.

„Es ist halt so ein schleichender Prozess. Du kriegst es selber nicht richtig mit, auch wenn du’s kennst.“

Jasmin

Irgendwann steht Jasmin einfach nicht mehr auf, liegt in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer im Bett. Tagelang. Duscht nicht, isst nicht, trinkt nicht. Ihr Telefon versteckt sie irgendwo im Wohnzimmer, weil sie nicht mit dem Handy in einem Raum sein kann. Irgendwann steht sie an dem Punkt: Entweder, du setzt dem jetzt ein Ende oder du tust etwas, damit es besser wird.


LINKLISTE MIT HILFSANGEBOTEN:

Sobald in einer entsprechenden Situation unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung (insbesondere Suizidgefährdung) besteht, sollte man nicht zögern, sofort einen psychiatrischen Notdienst, den Rettungsdienst (112) oder die Polizei zu verständigen.


Natürlich haben ihre Freunde versucht zu helfen. Gefragt, ob sie nicht eine andere Form der Therapie machen will. Aber das wollte sie nicht. Bloß nicht in die Psychiatrie – und auch keine Medikamente. Doch als auch ihre Therapeutin ihr nicht mehr helfen kann, entscheidet sie sich mit ihr zusammen doch für eine teilstationäre Therapie in einer Psychiatrie.

„Ich geh jetzt teilstationär in die Klapse und guck mal, ob die mich da irgendwo wieder zusammengebastelt kriegen.“

Jasmin

Teilstationär heißt in dem Fall: Morgens um neun Uhr beginnt der Tag in der Klinik und abends darf Jasmin wieder nach Hause. Denn es war schlicht so, dass die normale Arbeit mit der Psychologin nicht zu einer Verbesserung des Zustands geführt hat.

Keine Basis für eine normale Therapie

Und im Fall von Jasmin ging es auch ihrer Psychologin schon nicht darum, eine Therapie zu beginnen, sondern sie zunächst mal überhaupt wieder zu stabilisieren. Und im Prinzip hat das schon nicht geklappt. Ein Gefühl, wie ins Leere zu treten, sagt Jasmin. „Du strampelst und strampelst, aber du bekommst keinen Halt – und irgendwann werden die Beine halt müde“, so beschreibt Jasmin das Gefühl. „Dann trittst du langsamer und irgendwann hörst du auf zu strampeln – und dann fällst du.“

„Das ist ein bisschen wie auf Sand bauen. Du versuchst irgendwie ein Gerüst zu bauen, woran du dich festhalten kannst, aber du kannst dich nicht festhalten, weil es eben nicht auf einem festen Boden steht und es sackt halt immer wieder weg.“

Jasmin

Für Jasmin war es unglaublich schwierig sich einzugestehen: Ich kann nicht mehr. Und ich kann mir das gut vorstellen bei ihr. Denn sie gehört zu den Menschen, die sich nicht so leicht unterkriegen lassen. Die sämtliche Herausforderungen im Leben annehmen – und da waren schon einige heftige dabei, soviel kann ich wohl verraten. Aber Jasmin hat immer tapfer und mutig gekämpft und ist damit auch offen umgehen. Dass ausgerechnet sie sich also eingestehen muss: Das hier schaff ich nicht. Das pack ich nur, wenn ich wirklich alle Waffen strecke und mir eingestehe: Ich bin mit meinem Latein am Ende. Das stelle ich mir unglaublich hart vor. Für jeden Menschen. Aber besonders für sie. Ich kann nur erahnen, wie groß die Verzweiflung an der Stelle sein muss – und wie schmerzhaft dieser Prozess ist.

Was viele Außenstehende nicht verstehen: Dass das ein Punkt ist, an dem man nicht mehr wollen kann. Und zwar selbst die einfachsten Dinge nicht mehr wollen kann. Und dass das nichts damit zu tun hat, dass man sich nicht zusammenreißt. Es geht einfach nicht. Und das ist am allerschlimmsten für die betroffene Person. Denn die bekommt durchaus mit, dass was nicht funktioniert. Die bekommt mit, dass sie gerade an den einfachsten Dingen im Leben scheitert. Und das setzt erst recht negative Gedanken in Gang. Denn weil es keinen plausiblen Grund gibt und damit auch keine plausiblen Antworten, geht das Grübeln los. Warum kann ich nicht Haare waschen? Warum kann ich nicht in den Supermarkt gehen? Hinzu kommt erheblicher Schlafmangel. Denn weil die Gedanken nicht aufhören wollen, schläft Jasmin nur noch etwa drei Stunden pro Nacht.

„Es geht einfach nicht. Es ist verrückt. Man kanns einfach nicht erklären. Es ist immer auf dieses ‚Es geht einfach nicht‘ ausgerichtet.“

Jasmin

Natürlich ist das rational betrachtet einfach Quatsch, sich diese Fragen zu stellen. Natürlich kann es darauf rational betrachtet keine vernünftige oder zufrieden stellende Antwort geben. Das weiß auch Jasmin. Aber die rationale Jasmin, wie sie selber grade sagt, ist in diesen Momenten einfach nicht da.

Für Freunde ist dieser Zustand schwer auszuhalten. Denn eine Freundschaft bedingt ja, dass man einander hilft, füreinander da ist. Und sich auch mal wieder hoch hilft, wenn der andere unten ist. Bei einer Depression ist das anders. Tipps wie: „Kauf dir doch mal ’ne Tageslichtlampe“, oder „Geh doch mal zum Sport. Das tut mir auch immer gut“, sind nett gemeint, aber sie helfen nicht. Weil es einfach nicht geht. Warum ist aber nicht zu erklären.

Und damit beginnt schon die nächste Spirale. Denn ständig fühlt man sich genötigt zu erklären, was nicht zu erklären ist. Die unbefriedigenden Antworten sind auch für Freunde frustrierend. Und bei depressiven Menschen wächst zeitgleich das Gefühl zu versagen, die eigenen Freunde zu enttäuschen, nichtmal eine gute Freundin sein zu können, es nicht verdient zu haben, dass sich überhaupt Freunde um einen kümmern …

„Dieses Nichtverständnis der Leute drumherum setzt dich selber mit der Krankheit wieder unter Druck:“

Jasmin

Und trotzdem hat Jasmin natürlich versucht, diesem Druck nachzugeben. Eine sehr enge Freundin gibt sich zum Beispiel alle Mühe, Jasmin zu Ausflügen zu bewegen. Macht Radtouren mit ihr. Empowerment-Talk auf der Dachterasse. Aber es hilft nicht. Während ihre Freundin da sitzt und ihr Mut zuspricht, ihr sagt, was für ein toller und wertvoller Mensch sie ist, kommen die Worte bei Jasmin überhaupt nicht an. Sie dringen einfach nicht durch. Stattdessen wünscht sich Jasmin einfach nur in Ruhe gelassen zu werden.

Ihre Freundin hat das sehr geschockt. Denn zum ersten Mal realisiert sie: Das ist nicht mehr der Mensch, den ich kenne. Und für Jasmin ist das genau der Punkt: Die Depression verwandelt dich in einen Menschen, der nicht du bist, sagt sie. Und gleichzeitig macht sie dich handlungsunfähig.

„Das sind zwei Teams, die Depressiven und die Nicht-Depressiven.“

Jasmin

Mehr über psychische Erkrankungen sprechen

Viele Menschen wissen überhaupt nicht, was Depressionen eigentlich sind. Entsprechend schwer fällt ihnen der Umgang mit Menschen, die an einer Depression erkrankt sind. Das bessert sich langsam, sagt Jasmin. Und deshalb hat sie sich sehr gefreut, als sie vor kurzem einen Werbespot der Deutschen Depressionshilfe im Fernsehen gesehen hat.

Dabei war es nichtmal der Spot selber, den Jasmin so besonders fand. Sondern vielmehr die Tatsache, dass ein Spot über Depressionen ganz normal im Vorabendprogramm lief. Im Fernsehen. Und auch viele Blogs und Instagram-Accounts beschäftigen sich offen mit Depressionen. Es gibt eine Crowdfunding-Kampagne einer Betroffenen, die in München ein Mental Health Café eröffnen möchte. Jasmin findet das eine großartige Idee. Denn, sagt sie, der Umgang zwischen depressiven Menschen und nichtdepressiven Menschen ist schwierig. Viele Dinge, die gut gemeint sind, kommen nicht gut an. Je nachdem, in welcher Verfassung man gerade ist.

Für Jasmin ist das einer der Gründe, warum sie gesagt hat: Ich spreche da jetzt offen drüber. Auch mit ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen. Um sich selbst den Druck zu nehmen. Zum Beispiel in einer Situation, in der es ihr nicht so gut geht. Sie muss nicht grübeln, was ihr Gegenüber jetzt von ihr denkt, wenn sie weiß: Die sind informiert über meine Krankheit. Und genau so hat sie es auch mit ihrem Aufenthalt in der Tagesklinik gemacht.

„Das war für mich jetzt auch der Grund zu sagen, ich geh da ganz offen mit um, und ich rede da drüber, und ich versteck das jetzt auch nicht. Und, ja, ich geh drei Monate in die Klapse und guck mal, ob die mich wieder zusammenbauen.“

Jasmin

Sie möchte auch klar machen: Niemand muss sich dafür schämen. Und es hat auch nichts von Schwäche, wenn man anderen erklärt, was los ist. Aber vielen fällt es einfach schon schwer, ganz grundsätzlich über negative Gefühle zu sprechen. Zu sagen, man ist ein bisschen down oder depri, ist bereits ein echtes Zugeständnis. Dabei gibt es nochmal einen deutlichen Unterschied zwischen deprimiert sein und depressiv sein, der vielen Menschen gar nicht wirklich bewusst ist. Und auch das ist nicht ganz unproblematisch. Denn wenn wir alle unsere „Depri-Phasen“ haben, verkommt der Begriff zur Floskel. Etwas, das einfach wieder weg geht. Bei Depressionen ist das definitiv anders.

Umgang mit Suizidgedanken

Von ihrem ersten Tag in der Klinik erzählt mir Jasmin einen Witz, über den alle Anwesenden herzlich lachen. Es ist allerdings ein Witz übers sich selbst erhängen – und ehrlich gesagt – ich hab gezuckt als Jasmin mir den erzählt hat. Und sie hat’s gemerkt. Mir ist der Gedanke daran, mir selber das Leben zu nehmen, einfach völlig fremd. Und ich empfinde wirklich eine tiefe Trauer, wenn ich daran denke, dass Menschen so verzweifelt sind, dass sie das für sich als einzigen Ausweg sehen. Ich kann da nicht einfach so drüber lachen.

Gleichzeitig bin ich aber auch überzeugt davon, dass wir das Thema nicht zum Tabu erklären dürfen. Schon gar nicht im Umgang mit Menschen, die an Depressionen erkrankt sind. Denn auch das gehört in einem schweren Stadium zum Krankheitsbild. Und so schrecklich wir das persönlich finden, es muss einen Raum haben. Es muss mitgeteilt werden können. Gleichzeitig ist das der Punkt, an dem ganz definitiv auch psychologische und psychiatrische Hilfe nötig ist. Sofort. Auch Jasmin hat darüber nachgedacht, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nicht, weil sie grundsätzlich nicht mehr leben wollte. Sondern, weil sie SO nicht mehr leben wollte. Sie war müde vom kämpfen und die Aussicht, weiter so viel kämpfen zu müssen, macht mitunter einfach mutlos. Es ist, als würde man sich beim Marathon einfach irgendwann nach 30 Kilometern auf die Strecke legen. Nicht, weil man nicht ins Ziel kommen will. Sondern weil einfach kein weiterer Schritt mehr drin ist.

„Für mich war das auch ein Thema. Das ist übrigens ’n Tipp: Wenn du deiner Therapeutin das sagst, kannst du direkt die Schlitterrutsche in die Klapse nehmen.“

Jasmin

Das ist ein bisschen flapsig ausgedrückt. Es gehört einiges dazu, jemanden wirklich in eine geschlossene psychiatrische Anstalt einweisen zu lassen. Aber es ist ein ganz definitives Signal, dass jetzt etwas passieren muss. Jasmin hat ihre Therapeutin darüber informiert, dass sie Selbstmordgedanken hat. Mit ein Grund dafür, dass sie sich zusammen mit ihr um einen Platz in einer teilstationären psychiatrischen Einrichtung bemüht hat. „Schlitterrutsche“ hieß in dem Fall aber: Drei Monate Wartezeit. Denn die Warteliste in Kliniken nicht nicht wesentlich kürzer als die Warteliste auf einen Psychotherapeuten.

Jasmin erinnert sich noch genau an den Moment, als ihr der eigene Tod plötzlich als eine Möglichkeit erschien. Als eine Chance, dass das alles vorbei sein kann. In einem Moment, in dem sie tatsächlich die Gelegenheit hatte. Und im Endeffekt war das auch der Punkt an dem sie dachte: Das hier ist nicht gut. Jetzt muss was passieren.

„Es hat mir Ruhe gegeben in dem Moment. Weil ich eine Option hatte. Und mich hat im Endeffekt erschreckt mit welcher Ruhe und Klarheit ich daran gedacht hab.“

Jasmin

Für Jasmin war das ein sehr einschneidendes Erlebnis und tatsächlich der Wendepunkt an dem sie aufhört, sich gegen Medikamente zu sperren und einen möglichen Klinikaufenthalt. Denn das der eigene Tod die einzige Möglichkeit sein sollte, ihren Kopf und ihre Gedanken zur Ruhe zu bringen, überhaupt endlich mal wieder Ruhe zu finden, das war es dann doch nicht. Und deswegen hat sie letzendlich nach einer anderen Möglichkeit gesucht, zumindest endlich mal die Pause-Taste drücken zu können.

„Es gibt Tage, an denen ich mir selbst so zuviel bin, dass man es kaum aushält.“

Jasmin

Ein Aspekt, den Jasmin in der Therapie gelernt hat, ist ihre Gefühle besser wahrzunehmen. Und zu überlegen, welcher Teil von ihr gerade auf eine bestimmte Situation reagiert. Denn jede und jeder von uns hat verschiedene Persönlichkeitsanteile in sich, die wir in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedlich stark ausleben. Manche davon bewusst, manche davon eher unbewusst. Für diese Persönlichkeitsanteile ein Gespür zu entwicklen und wahrzunehmen, wie sie in verschiedenen Situationen reagiert, war für Jasmin eine wichtige Erkenntnis.

Die Nummer mit der Selbstliebe

Was ihr aber bis heute schwer fällt: Die Nummer mit der Selbstliebe. Obwohl sie erkannt hat, dass ihr das eigentlich gut tut. Aber es ist eben nicht so einfach, wenn man sich jahrelang in Selbstabwertung geübt hat, plötzlich das Gegenteil von sich anzunehmen. Sich nicht selber runterzumachen, sondern sich selber wertzuschätzen. Von aufwerten ganz zu schweigen.

Und dann gibt es da noch die Sache mit der Vergesslichkeit. Denn nicht nur die Psychopharmaka, die Jasmin aktuell nimmt, wirken sich auf ihre Gedächtnisleistung aus. Auch Depressionen machen auf eine gewisse Art und Weise vergesslich. Viele Menschen können sich zum Beispiel in einer depressiven Phase nicht mehr an gute Gefühle erinnern. Oder an schöne und positive Ereignisse.

Und irgendwie trägt das dazu bei, dass man sich immer mehr verliert. Oder sich verloren fühlt, wie Jasmin das beschreibt. Für sie ist Achtsamkeit etwas, dass sie lehrt, sich an die positiven Dinge, Gefühle und Ereignisse zu erinnern. Aktiv. Um eben diese Dinge nicht zu vergessen. Und auch, wenn dieses aktive Nachspüren auch immer mal wieder in die Gedankenschleifen führt. Oft, sagt Jasmin, lernt sie noch was über sich. Und oft tut es ihr auch einfach gut. Weil es ihr die Möglichkeit gibt, anders zu handeln. Anders handeln können wir nämlich nur, wenn wir verstehen, was unserem Handeln zu Grunde liegt und was mit uns passiert.

Wie Freunde helfen können

Als die Depression bei Jasmin das erste Mal ausbricht, ist sie 17 Jahre alt. Damals versteht sie überhaupt nicht, was mit ihr passiert. Und im Gegensatz zu heute, konnte sie nicht mal eben im Netz anfangen nach Menschen zu suchen, die ähnliches erlebt haben. Psychische Erkrankungen waren ein Tabu, es gab keine instagram-Accounts von Betroffenen oder Blogs, in denen sie hätte nachlesen können.

Aber auch, wenn es heute diese Möglichkeiten gibt: Depression, sagt Jasmin, ist wirklich eine sehr, sehr einsame Kiste. Und das, obwohl auf einer rationalen Eben durchaus klar ist, dass – vielleicht sogar im selben Moment – viele Menschen das gleiche durchmachen wie man selber.

„Grundsätzlich ist es echt eine ganz einsame Geschichte. Selbstgewählte Einsamkeit und irgendwie so ein bisschen eine gesellschaftliche Einsamkeit. Wenn es keiner versteht um dich rum, und du hast nicht die Kraft oder kannst nicht rüberbringen, dass man es versteht, dann bist du allein.“

Jasmin

Es gibt kein Patentrezept, wie Freunde oder Familie mit dieser Situation umgehen können. Für Jasmin war es oft so, dass Angebote, diese Einsamkeit zu verlassen, zwar gut gemeint waren, aber leider überhaupt nicht hilfreich. Denn auch das baut wieder Druck auf. Jedes Angebot erfordert eine Entscheidung. Jede Ablehnung eines solchen Angebots fühlt sich wieder an wie ein Scheitern. An sich selbst, gegenüber der anderen Person. Und dann kommt noch die Scham dazu, sich in diesem Zustand anderen zu zeigen oder zuzumuten. Jasmin wollte nicht, dass ihre Freunde sie sehen in ihrer Verzweiflung. Sie hat sich einfach dafür geschämt.

„Ich bin verrückt. Etwas in mir ist nicht an seinem Platz und das muss an seinen Platz wieder irgendwie kommen. Das mein ich mit verrückt.“

Jasmin

In einer akuten Phase stehen Freunde also oft recht hilflos daneben und müssen zuschauen. Die Freundschaft zählt trotzdem. Und deshalb gibt ihr die Therapeutin einen Tipp: Jasmin soll Fotos von ihren Freunden in die Wohnung hängen. Fotos auf denen sie zusammen mit ihren Freunden abgelichtet ist. Die soll sie so in der Wohnung platzieren, dass sie die immer sehen kann. Also pinnt sie die Fotos an ihren Kühlschrank. Und tatsächlich helfen die Bilder auch in ihren harten Phasen, sie daran zu erinnern, dass da draußen Menschen sind, die sie einfach anrufen kann, wenn sie das möchte – und wenn sie ihr Handy wieder findet.

Für ihre Freunde ist es einfach so, dass sie warten müssen. Aber immerhin gehen die Phasen, in denen einfach gar nichts mehr geht, nach einigen Tagen auch wieder vorbei. Dann schafft Jasmin es, wieder aufzustehen. Und auch, sich wieder bei ihren Freunden zu melden. Oder ein Lebenszeichen abzusetzen. Was da wann und wie den Hebel umlegt, das weiß sie nicht. Aber ihre Freunde wissen inzwischen, dass es einfach sein kann, dass sie sich tagelange nicht meldet. Und auch nicht antwortet.

Jasmin sagt: Das müssen Freunde aushalten. Denn alles andere würde auch nichts nutzen. Selbst wenn jemand bei ihr klingeln würde aus Sorge, es ist etwas passiert – sie würde schlicht die Tür nicht aufmachen. Und so hilft nur zu warten, bis sich der Hebel umlegt – und dann einfach da zu sein. Sich darauf einzulassen, was sie gerade an Nähe und auch Action aushält.

Trotzdem wünscht sie sich manchmal, ihre Freunde könnten sie sehen, wenn es ihr richtig mies geht. Damit sie besser verstehen, was das mit ihr macht. Damit sie nicht nur erzählt bekommen, dass es ihr wirklich elend geht, sondern damit sie das auch sehen können. Um zu begreifen, dass auch gut gemeinte Ratschläge einfach nicht helfen. Oder Ratschläge wie „mal an die frische Luft gehen und Sonne tanken“ in diesen Situationen keine Besserung bringen. Im Gegenteilt. Schönes Wetter macht nicht unbedingt, dass sich Depressive besser fühlen. Es fühlt sich einfach nicht gut an, wenn alle Menschen um einen herum lachen, während die eigene Seele wund ist und schmerzt. Man kann dieses wunde Gefühl ja nicht einfach an die Garderobe hängen, wie einen Wintermantel, bevor man das Haus verlässt.

Eine andere Reaktion auf dieses Diskrepanzgefühl bei sonnigem Wetter ist eine gewisse Wut und Grumpyness gegenüber dem Glück, das andere Menschen zu spüren scheinen. Dann geht Jasmin auch schon mal innerlich schimpfend und fluchend durch den Park. Sie sieht dann nicht Menschen, die grillen und Spaß haben, sondern nur Menschen, die ihren kack Müll überall rumliegen lassen. Und natürlich ist auch diese Scheißlaune nur eine Möglichkeit damit klar zu kommen, dass man die Gefühle der Menschen um einen herum eben nicht teilen kann.

Bewegung hilft, wenn man aus dem Gröbsten raus ist

Ein echter Gewinn für Jasmin in der Therapie: Sie hat ihre Leidenschaft für Tischtennis entdeckt. Und ja, Sport und Bewegung sind hilfreich für Menschen mit Depressionen. Halt nur nicht in einer akuten Phase. Sie hat aber auch ein neues Hassobjekt, dass ihren inneren Grinch so richtig zu Tage fördert: Wikingerschach oder Kubb. Da kann sie so richtig schön abranten. Und ich kann euch verraten, wenn Jasmin anfängt zu maulen, dann wirds für alle anderen in der Regel ziemlich lustig.

Übrigens auch bei den Sport- und Bewegungsübungen in der Klinik wurden die Patient:innen vor und nach den Einheiten gefragt, wie sie sich fühlen. Und oft konnte Jasmin nach dem Sport eine Verbesserung ihres Zustands feststellen, auch wenn sie sich vorher nicht so gut gefühlt hat.

In der Nähe bleiben

Was übrigens sehr wichtig ist: Auch wenn Freundinnen und Freunde in der akuten Phase nicht helfen können, davor oder danach sind sie enorm wichtig. Zum Beispiel, indem sie die Möglichkeit bieten, über das Erlebte und Gefühlte zu sprechen. Indem sie nachfragen, wie sich das anfühlt, wenn die Depression so stark ist, dass nichts mehr geht. Es geht darum, echtes Interesse zu zeigen. Und eine Vertrauensbasis zu schaffen, die es ermöglicht, immer wieder zurückzukommen. Klar sind das Phasen, in denen man die eigenen Bedürfnisse und Ansprüche an eine Freundschaft erstmal zurück stellt. Es braucht diese echten Freundschaften, um einen Ankerpunkt im Leben jenseits der Depression zu haben.

Und auch Kolleginnen und Kollegen dürfen dieses Interesse zeigen. Natürlich schadet da ein bisschen Fingerspitzengefühl für übergriffige Fragen nicht. Aber da leitet der gesunde Menschenverstand – oder auch hier einfach nachfragen. Darf ich dich fragen, wie es dir ging in den letzten Tagen? Kann ein guter Anfang sein. Da ist ein Nein so möglich, wie eine ehrliche Antwort zu dem, was war.

„Mit ner kleinen Funzel in der Nähe stehen und sagen: ‚Hier ist übrigens Licht, falls du’s brauchst.'“

Jasmin

Was übrigens auch nicht so leicht nachzuvollziehen ist für viele Freunde: Dass die depressive Person nichts gesagt hat. Oder nicht um Hilfe gebeten hat. Für viele psychisch stabile Menschen ist es oft schon nicht leicht, um Hilfe zu bitten, wenn es ihnen aus welchen Gründen auch immer gerade nicht gut geht. Bei einer Depression ist das ungleich schwieriger. Denn um nach Hilfe fragen zu können, müsste man ja auch sagen, was einem gerade helfen würde. Das weiß die depressive Person aber eben nicht. Und sie weiß auch nicht, was ihr helfen würde. Und allein darüber nachzudenken, wer jetzt um welche Art der Hilfe gebeten werden könnte … siehe weiter oben: Nicht möglich. Auch das ist eine Gedankenspirale, die kein Ende findet. Mit dem Gefühl verbunden zu versagen, weil man keine Antwort findet. Weil man nicht erklären kann, was einem fehlt, noch weniger, was einem hilft. Und eigentlich – so denken Depressive – sind sie es auch gar nicht wert.

„Das ist halt auch was, das man akzeptieren muss. Wo man dann sagt: OK, ich kann eigentlich im Endeffekt nichts machen außer mich selber schlau.“

Jasmin

Selbstverletzung

Etwas, das ich von Jasmin bis zum Zeitpunkt unseres Podcast-Gesprächs übrigens nicht wusste: Dass sie sich, weil sie den inneren Schmerz nicht mehr ertragen konnte, selbst verletzt hat. Es ist der Versuch, den Schmerz in ihrem Inneren in irgendeiner Form nach außen zu bringen und kontrollieren zu können. Und natürlich weiß sie im rationalen Zustand, dass das nicht funktioniert. Aber wenn der Schmerz akut ist, schaltet sich die Vernunft einfach aus.

Ich weiß, das wird sie sicher nicht hören wollen – aber auch hier bewundere ich ihren offensiven Umgang damit. Denn Jasmin hat diese Verletzungen ihren Freunden gezeigt. Obwohl das für sie mit krassen Schamgefühlen verbunden war. Dieser offensive Umgang und der Schock ihrer Freunde darüber, dass sie sich selbst verletzt, hat auch für Jasmin etwas verändert. Es hat ihre Hemmschwelle erhöht. Und dazu geführt, dass sie zumindest aktuell mit dem Ritzen aufgehört hat.

Auch das Arbeitsumfeld ist wichtig

Wo Jasmin, sagt sie, wirklich Glück hat: Sie arbeitet bei einem großen Unternehmen, dass ihr auch während der Krankheit den Rücken stärkt. Bei dem sie sich zumindest keine finanziellen Sorgen machen muss und abgesichert ist. Und auch ihre Chefs sind bemüht, einen guten Umgang mit ihrer Depression zu finden, fragen nach, wie es ihr geht und unterstützen sie so gut wie möglich. Trotzdem hat Jasmin, wenn sie wie zuletzt mal zwei Tage ausfällt und nicht begründen kann, warum, ein wahnsinnig schlechtes Gewissen.

Aber letztendlich hilft ihr der offene Umgang mit der Depression, dass sie diese Unterstützung im Unternehmen bekommt. Und gerade in großen Unternehmen, finde ich zumindest, könnte so ein Umgang mit Depressionen selbstverständlich sein. Denn fast überall ist Arbeit Teamwork – und wenn das Team gut zusammen arbeitet, können auch Ausfälle kompensiert werden. Ganz egal, ob jetzt ein Kollege oder eine Kollegin spontan zu Hause bleiben muss, weil das Kind krank ist oder weil eine Depression es unmöglich macht, das Bett, geschweige denn das Haus zu verlassen.

Aber in der Wahrnehmung von Depression, und das ist das versöhnliche Ende dieses Gesprächs, tut sich etwas. In der Gesellschaft und in Unternehmen. Es verbreitet sich immer mehr Wissen darüber. Immer häufiger sind Arbeitgeber ansprechbar für solche Unternehmen. Die Veränderung findet langsam statt und die Entwicklung ist sicher nicht überall gleich und zufriedenstellend. Aber dass sich ein Bewusstsein entwickelt auch für den Umgang mit der Krankheit, das sieht Jasmin als deutlichen Fortschritt an.

„Es ist für Arbeitgeber unerlässlich, das Thema mit auf die Agenda zu nehmen: Psychische Gesundheit bei Arbeitnehmern.“

Jasmin

Jasmin schreibt übrigens in ihrem Blog „How to get lost“ über ihre Depression und zeigt ein paar von den fantastischen Fotos, die sie macht.

Das Buch, das Jasmin in der Episode erwähnt hat:
Matt Haig – Reasons to stay alive

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