Franziska Köppe ist Transformationskatalysatorin. Das heißt, sie berät Unternehmen in Sachen Betriebswirtschaft und lässt Erkenntnisse aus Humanismus und Aufklärung mit einfließen. Zum einen, damit Unternehmen auch ihre gesellschaftlichen Aufgaben wahrnehmen können, zum anderen, damit sie flexibel agieren können in einer sich schnell verändernden Welt. Normalerweise würde ich hier in diesem Artikel genau darüber schreiben. Aber uns ist ein anderes Thema vor die Füße gefallen: Klopapier!

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Angefangen hat alles mit einem Tweet. Darin werden zwei Menschen gezeigt, die sich an der Kasse mit einer Supermarktangestellten um eine Packung Klopapier streiten. Es kommt verbal zum Streit und zum Gezerre um das Paket Klopapier. Jemand twittert darüber und verurteilt das Verhalten. Bei mir aber setzt ein ganz anderer Impuls ein. Nämlich die Frage: Warum gerade Klopapier? Was steckt da hinter? Ich frage also meine meine Twitter-Timeline – und meine Oma. Die ist 1932 geboren und in einem kleinen Häuschen im Wald groß geworden. Mit einem Plumpsklo. Und Zeitungspapier. Unterwegs wahlweise ein Büschel Gras oder Blätter. Warum Menschen gerade jetzt Klopapier hamstern, kann sie mir auch nicht erklären, aber die Geschichte hat mir trotzdem gefallen und deshalb habe ich sie in einen Twitter-Thread gepackt. Mit der Frage, ob vielleicht gerade Menschen hamstern, die in einer Mangelwirtschaft groß geworden sind – in der DDR.

Und die Antwort von Franziska Köppe darauf:

Unter genau diesem Thread meldet sich Franziska Köppe, bei Twitter unter @madiko zu finden. Sie ist 1975 geboren und hat ihre Kindheit zwischen Gera und Leipzig verbracht – und ist mit einem Plumpsklo groß geworden. Das fand ich spannend, denn schließlich ist das ja nur knappe 40 Jahre her. Das waren die 80er. Und tatsächlich taucht in den 80ern noch ein anderes Phänomen in der DDR auf. Es gab eine „Klopapierkrise“. Davon berichtet nicht nur die Mutter von Journalistin Katharina Thoms, bekannt aus dem preisgekrönten Podcast „Mensch Mutta – Ein halbes Leben in der DDR„. Dazu findet sich bei Wikipedia folgender Artikelabschnitt:

„In der DDR blieb Krepppapier die einzig verfügbare Sorte. Dabei kam es hin und wieder zu Versorgungsengpässen, die ‚Gegenstand unendlicher Geschichten‘ und Thema der Berichterstattung in westdeutscher Presse wurden. Generationenübergreifend charakterisierten DDR-Bürger das verfügbare Toilettenpapier – das auch Gegenstand des politischen Witzes war – im Rückblick als ‚hart‘, ‚rauh‘ und ‚viel zu dünn‘. Nach Westbesuchen gehörte das dortige weichere Papier für viele zu den kleinen Annehmlichkeiten, die ’schmerzlich vermisst‘ wurden.“

Wikipedia.de Artikel über Klopapier, abgerufen am 21.03.2020

Und während sich unter meinem Tweet die Antworten sammeln, schreiben Franziska Köppe und ich längst per Privatnachricht hin und her. Kurze Zeit später stand fest: Lass uns drüber sprechen! Und das hier ist das Ergebnis:

Franziska Köppe ist unter anderem bei ihren Großeltern aufgewachsen. Die Großeltern mütterlicherseits lebten auf dem Land in der Nähe von Gera. Und dort gab es bis in die späten 80er ein Plumpsklo. Toilettenpapier gab es da auch keins. Wie bei meiner Großmutter wurde das Gesäß mit einer Zeitung gereinigt. Im Fall von Franziska Köppe war das die Geraer Volkszeitung.

„Zu DDR-Zeiten muss man sagen: Zeitungen waren dünner und sie hatten deutlich mehr Druckerschwärze.“

Franziska Köppe

Und was das heißt, dürft ihr euch gerne selber vorstellen. Wasser für die Hände gab’s aus einer Regentonne. Auch das war nicht immer angenehm, denn im Winter musste erstmal die Eisschicht eingeschlagen werden, damit die Hände gewaschen werden konnten. Und auch auf dem Klo war es dann ziemlich zapfig. Das war aber immer noch besser als im Hochsommer. Denn mit den steigenden Temperaturen steigen auch die Anzahl an Schmeißfliegen und die Geruchsintensität.

Erst Ende der 80er Jahre wurde das Plumpsklo dann durch ein Wasserklosett ersetzt. Da haben die Eltern von Franziska Köppe in eigener Arbeit eine Kläranlage am Haus gebaut.

Geschichten über Klopapier

Das ist alles noch gar nicht so lange her. Und irgendwie kann ich mir vorstellen, dass Menschen, die in ihrem Leben mal Klopapiermangel erlebt haben oder Mangelwirtschaft, das einfach mit Krisenzeiten verbinden. Auch Franziska Köppe erinnert sich daran, dass ihr gesagt wurde, sie solle wenig Klopapier verwenden. Aus zwei Gründen: Einer war der Mangel, der andere war, dass das Papier die Leitungen verstopft hat. Das lag maßgeblich an der Papierqualität. Ein raues, graugrünes, dünnes Krepppapier, erinnert sich Franziska Köppe – die Luxusvariante gab’s auch in rosa. Die wurde aber in ihrer Familie nicht verwendet.

„Meine Familie hat immer auf Recycling geachtet. Von daher war bei uns nichts, was mit Farbe noch zusätzlich versetzt war, weil wir auch den Chemiebetrieben zu DDR-Zeiten nicht so richtig geglaubt haben, dass das gesundheitlich unbedenklich war.“

Franziska Köppe

An der Stelle muss ich sagen: Toilettenpapier in schlechter Qualität gab’s im Westen auch. Ich erinnere mich noch zu gut an das graue, müffelnde Klopapier auf den Schulklos, das nicht mal besonders saugfähig war, dafür rau und knittrig. Nicht schön.

Hamstern ist Typsache

Ob das Hamstern von Toilettenpapier jetzt mit den Erfahrungen von Menschen in einer Mangelwirtschaft zu tun hat oder nicht, konnten wir natürlich nicht final klären. Und da wir diese Hamsterkäufe inzwischen weltweit beobachten, lässt sich das so monokausal gar nicht in Zusammenhang bringen. Trotzdem hat diese Überlegung dazu geführt, dass Franziska Köppe und ich ins Gespräch gekommen sind.

Für sie ist das Hamstern aber eher eine Typfrage. Ein Mentalitätsunterschied. Überall gibt es diejenigen, die denken: Oh, das letzte nehme ich mir jetzt, ich könnte das ja in drei Monaten brauchen. Und andere, die sehen: Oh, es ist nur noch wenig da, ich nehm jetzt nur noch das, was ich wirklich, wirklich, wirklich brauche und sich bewusst zurück halten.

„Ich kenn beides. Ich kenn insbesondere auch aus DDR-Zeiten, dass man eher bereit war zu teilen, vielleicht auch sich selbst zurück zu nehmen und zu sagen: ‚Ich verzichte freiwillig, wenn es jemand anderem nützt.'“

Franziska Köppe

Diese Mentalität und Bereitschaft, Dinge als gemeinschaftliches Gut zu betrachten und sich in Krisensituationen solidarisch zu verhalten, hat sie persönlich als Unterschied erlebt zu dem, wie sie kurz nach dem Mauerfall die BRD erlebt hat. Solidarität, Hilfsbereitschaften und das Teilen gemeinsamer Güter waren in der DDR essentiell, um ein Auskommen zu finden.

„Wir waren darauf angewiesen, dass wir schauen, dass jeder zurecht kommt mit der Situation. Das hat die besten Seiten, aber natürlich auch die schlechten Seiten aus den Menschen heraus gekehrt. Und ich wünsche mir, jetzt auch in der Corona-Krise, dass wir eher schauen, die guten Seiten nach Außen zu kehren.“

Franziska Köppe

Auch jetzt leistet Franziska Köppe bewusst einen Beitrag dazu, der sich auf die guten Seiten fokussiert. Statt die Ängste zu triggern mit Fotos von leeren Supermarktregalen, setzt sie auf Inhalte, die Menschen zum Miteinander ermutigen. Eine Strategie, die auch die Initiative „Mutland“ verfolgt. Unter dem Hashtag werden ganz bewusst positive Nachrichten verfasst.

Eine Kindheit zwischen Gera und Leipzig

Aber zurück zu Franziska Köppe und ihrer Kindheit in der DDR. Denn die war in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes. Auch, weil sie in zwei völlig verschiedenen Welten groß geworden ist. Zum einen in einem 300-Seelen-Dorf bei Gera – also 300 Seelen inklusive aller Tiere, die dort lebten – zum anderen in der Großstadt Leipzig, eine Welt aus Kulturveranstaltungen, Theater, Kino und großen Bibliotheken.

Damit sie als Kind von Gera nach Leipzig kam, gab es zwei Möglichkeiten: Mit dem Trabi gefahren werden – oder alleine mit Bus, Bahn und U-Bahn. Letzteres bereits ab der 1. oder 2. Klasse erinnert sich Franziska Köppe. Das heißt, da war sie gerade mal 8 Jahre alt. Für sie war das eine Selbstverständlichkeit.

„Du hast halt von deinen Eltern aufgeschrieben gekriegt: Zug sowieso, Gleis sowieso. Und das waren ja alles Linienfahrten. Das heißt, das war immer gleich. Da konnte man sich drauf verlassen.“

Franziska Köppe

Und wenn das mal nicht der Fall war, hat man halt gewartet auf den nächsten Zug. Und weil Franziska Köppe schon so früh mit Zug und öffentlichen Verkehrsmitteln von A nach B gefahren ist, hat sie eine hohe Flexibilität in Bezug auf Reisen mit Bus und Bahn. Für sie ist es das Selbstverständlichste der Welt – auch in Bezug auf die Unwägbarkeiten, die das bisweilen mit sich bringt.

„Für mich war das ein Element des Stolzes, dass ich das auch sehr gerne gemacht hab und dann ein Stück weit einen Stolz entwickelt hatte, dass ich das kann.“

Franziska Köppe

Eine weitere Besonderheit im Lebenslauf von Franziska Köppe ist die Musik. Sie hat, sagt sie, ihre Eltern so lange genervt, bis sie irgendwann Geige spielen lernen durfte. Sie hat mit so viel Begeisterung und so schnell gelernt, dass sie bereits nach zwei Jahren im Orchester mitspielen durfte. Das hat ihr eine ganz neue Welt eröffnet, sagt sie. Denn sie ist in einer sehr stark systemtreuen Familie groß geworden.

„Für mich war die Musik eine Möglichkeit aus der Systemtreue ausbrechen zu können. Aber auf eine versteckte Art.“

Franziska Köppe

Es ist das erste Mal, dass Franziska Köppe öffentlich darüber spricht. Darüber, dass sie über die Musik zur Freiheitsbewegung gekommen ist – und das bereits in sehr jungen Jahren. Im Orchester kommt sie mit Menschen zusammen, die geprägt sind von einem sehr humanistischen Weltbild. Und in dem Wert auf das eigene Denken legen.

Rückblickend sagt Franziska Köppe, dass sie sich vor allem gegen das Paternalistische und die Entmündigung durch einen Staat gewehrt hat, der einerseits als eine Art Vaterfigur oder großer Bruder vorgab, Sorge für seine Bürger tragen zu wollen, andererseits die Bürger:innen dabei aber auch stark bevormundete.

Zwischen Systemtreue und Freiheit

Eine schwierige Situation für ein Kind aus einer systemtreuen Familie. Wobei sicher auch da nicht einfach eine Blaupause angelegt werden kann. Franziska Köppe erklärt das so: In der DDR gab es zwei verschiedene Kasten. Die Arbeiter und die Intelligentia. Ihre Großeltern kamen beide aus dem bäuerlichen Milieu. Der Großvater väterlicherseits entwickelt sich da raus, absolviert ein Ökonomie-Studium und wird Leiter des Instituts für Energetik in Leipzig.

„Dieser Karriereweg hat natürlich von ihm erfordert, dass er linientreu ist. Denn zu DDR-Zeiten konnten nur sehr linientreue Menschen überhaupt in so eine Position kommen.“

Franziska Köppe

Auch ihr Vater schlägt diesen Weg ein. Er ist Mitglied im Rat der Stadt Gera und war da für die Energieversorgung im medizinischen Bereich zuständig. Dazu gehörten zum Beispiel Krankenhäuser. Auch das war eine Position, die besonders linientreuen Bürger:innen vorbehalten war. Für Franziska Köppe hieß das als Kind natürlich auch: Keine Regelbrüche. So wurde bei ihr zu Hause zum Beispiel eben nicht heimlich Westfernsehen geschaut. Während sie über ihre Schulfreunde mitbekommt, dass die Westserien wie „Ein Colt für alle Fälle“ schauen, konnte sie da überhaupt nicht mitreden. Und weil sie offen gesagt hat, warum sie das nicht schauen kann, war auch klar: Der Franziska, der erzählt man lieber keine Geheimnisse.

Bei ihrem Großvater mütterlicherseits, der auf dem Dorf in Gera wohnte, war ein überzeugter Sozialist. Im idealistischen Sinne. Er hat einfach an die Idee des Sozialismus geglaubt, wie Karl Marx sie in seinen Werken propagiert hat.

„Mein Großvater (mütterlicherseits) war jemand, der sehr stark den Glauben an den Sozialismus im ureigenen, gemeinten Sinn verinnerlicht hatte.“

Franziska Köppe

Das hieß in der praktischen Umsetzung: Er war geprägt vom Gemeinwohldenken und überzeugt von Subsistenzwirtschaft und der Möglichkeit, sich selbst als Gemeinschaft versorgen zu können. Die Menschen sollten füreinander da sein und gemeinschaftlich an Lösungen arbeiten. Alle sollten in Entscheidungen einbezogen werden. An der Stelle ist die Begeisterung und Bewunderung von Franziska Köppe für ihren Großvater deutlich zu hören. Auch dafür, dass er dafür nur wenige Worte gebraucht hat. Wenn jemand mit einem Problem zu ihm kam, hat er sich das angehört, lange geschwiegen und dann einfach gesagt, wer wann zu welchem Zeitpunkt an welchem Ort sein soll. Und die Menschen im Dorf haben das gemacht, weil sie wussten: Die Menschen, die sich dann da treffen werden, werden das Problem gemeinsam lösen.

Ein Missverständnis und eine Auflösung

Ich habe dazu zwei Gedanken. Zum einen: Bewunderung dafür, was für eine menschliche Logistikmaschine der Großvater von Franziska Köppe gewesen sein muss. Zum anderen Frage ich mich aber auch, ob das in einem System wie der DDR nicht vielleicht auch Gründe hatte – gute Gründe – nicht alles zu sagen, was man denkt oder weiß oder wie man etwas organisieren will. Und genau das ist ein sehr spannender Punkt im Gespräch zwischen Franziska Köppe und mir. Denn sie versteht etwas ganz anderes. Nämlich dass in meiner Wahrnehmung ihr Großvater eine Machtposition hatte und die sozusagen dadurch sichern wollte, dass er einfach ein Geheimnis daraus machte, wie er Probleme löst und welche Kontakte er dafür aus seinem Netzwerk nutzt.

Ich wiederum dachte eher daran, dass es vielleicht darum geht, Menschen nicht zu verraten. Als Wessi weiß ich zugegebenermaßen nicht viel vom alltäglichen Leben in der DDR. Aber die Stasi ist mir schon ein Begriff. Und auch, dass manche Dinge einfach auch verboten waren und man dafür bestraft werden konnte und man deshalb bei bestimmten Dingen vielleicht besser den Mund gehalten hat.

Hier treffen also zwei Lebens- und auch Erfahrungswelten aufeinander – und zack, reden wir aneinander vorbei. Das Wundervolle ist aber: Franziska Köppe merkt das und schließt die Lücke mit einer Erkenntnis: Dass für sie nämlich Dinge ganz selbstverständlich sind, von denen ich nicht viel weiß und die in meinem Leben als Wessikind einfach keine Rolle gespielt haben: Denn zwei Dinge gehörten in der DDR zum Grundverständnis: Dass es offene Geheimnisse gab und etwas, das sich freiwilliges Muss nennt. Zu den offenen Geheimnissen gehörte zum Beispiel, dass jeder wusste, dass manche Waren nur unter der Ladentheke gekauft werden konnten:

„Da war oft offizielle Regel: Was vom Politbüro vorgegeben war, wurde über der Ladentheke verkauft und Dinge, die man eigentlich nicht haben darf, oder was rationiert war, das wurde unter der Ladentheke dann verkauft.“

Franziska Köppe

Das heißt: Nicht nur, aber vor allem auf dem Dorf wurde sich eher mal über das sozialistische System hinweggesetzt und stattdessen die gewachsenen Netzwerke und Regeln der Dorfgemeinschaft genutzt. In der Stadt wurde sich strenger an die Regeln des sozialistischen Systems gehalten. Zumindest hat das Franziska Köppe so erlebt. Das nur an der Stelle, weil ein Leben und eine Lebenserfahrung niemals als pars pro toto gelten kann. Auch hier können viele Dinge gleichzeitig wahr sein.

Keine Pioniernachmittage dank Musik

Diese offenen Geheimnisse wurden aber nicht mit jeder und jedem geteilt. Was das bedeutet, hat Franziska Köppe vor allem in der Schulzeit erfahren. Weil ihr Vater für den Staat gearbeitet hat, gehörte sie definitiv nicht zu denen, mit der andere Kinder – oder auch die Eltern dieser Kinder – Geheimnisse teilen wollten.

„Allein, dass ich die Tochter meines Vaters war, hat zumindest in meiner Klasse dazu geführt, dass man mich gemieden hat. Man nicht mit mir erzählt hat.“

Franziska Köppe

So sehr sie auch versucht hat, den Kindern klar zu machen, dass sie nicht ist wie ihre Eltern, das Misstrauen war zu groß. Und so waren für Franziska Köppe die Musik und das Orchester ein Zufluchtsort. Dort lernt sie Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen kennen. Dadurch hat sie eine größere Vielfalt kennengelernt und war mit verschiedenen Welten und Weltbildern konfrontiert, sagt sie.

„Ich hatte zudem über die Musik die Chance verschiedene Menschen kennenzulernen aus verschiedenen sozialen Gebilden.“

Franziska Köppe

Ihr Leipziger Großvater legt zudem großen Wert auf Allgemeinbildung und hilft ihr zu unterscheiden: Was ist die Reinform des Systems, wie wird es gelebt und wie kann sie sich darin zurecht finde. Er bringt Franziska Köppe bei, kluge und gute Entscheidungen zu treffen. Lässt sie abwägen, Szenarien entwickeln, ihre eigenen Enscheidungen treffen – aber überlässt ihr dann auch die Verantwortung dafür.

„Egal was ich gemacht hatte, auch wenn das etwas war, wo man durchaus spürte, dass er das nicht so gut gehießen hat, er hat mich unterstütz. Das hat mich sehr, sehr stark geprägt.“

Franziska Köppe

Die Musik hat Franziska Köppe noch einen weiteren Ausweg eröffnet. Denn zufälligerweise lagen die Orchesterproben genau am gleichen Tag, wie die Pionier-Nachmittage. Und so konnte Franziska Köppe an letzteren nicht teilnehmen. Ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.

„Pionier-Nachmittag war eine sehr, sehr, sehr starke Sozialisierung in Richtung Linientreue.“

Franziska Köppe

Auch wenn es da nur wenige Wege raus gab: Franziska Köppe erinnert sich, wie doof sie die morgendlichen Appelle fand. Dass sie sich geärgert hat, dass man im Pionier-Röckchen bei morgendlichen Appellen draußen frieren sollte, dass man am 1. Mai und am 1. September verpflichtend demonstrieren Parolen rufen musste. Es war widersprüchlich: Denn obwohl es eine Pflicht war, da mitzumachen, wurde es unterschwellig als etwas verkauft, das man ja ohnehin freiwillig machen würde – freiwilliges Muss eben.

© privat

Durch das Orchester und die Konzerttourneen blieb ihr vieles an sozialistischer Gehirnwäsche erspart, sagt Franziska Köppe heute – und darüber ist sie sehr froh. Trotzdem hat sie das Leben in der DDR natürlich geprägt. So wie jede:n hier natürlich das Leben und aufwachsen in einer kapitalistischen Gesellschaft geprägt hat. Der Einfluss ist subtiler, aber er ist natürlich trotzdem vorhanden. Und das merken wir – gerade jetzt während der Corona-Pandemie – durchaus deutlich. Wir erleben gerade, wo der auch Kapitalismus und die Ökonomisierung der Gesellschaft und des Sozialwesens ihre Schwächen haben.

Und vielleicht ist das ja die beste Zeit, einander zuzuhören und voneinander zu lernen. Miteinander ins Gespräch zu kommen. Mir jedenfalls hat das Gespräch mit Franziska Köppe sehr gut getan – und ich durfte etwas lernen. Mein Weltbild ein bisschen grade rücken. Und ich danke an dieser Stelle ganz herzlich für das Vertrauen, dass Franziska Köppe mir entgegengebracht hat. Denn es ist gar nicht so selbstverständlich, dass wir offen über unsere unterschiedlichen Erfahrungswelten sprechen und in den Austausch gehen. Wir brauchen viel mehr davon.