Die freie Journalistin Katharina Thoms hat ein Faible für langfristige Projekte mit M: Mössingen, Meßstetten und das Leben ihrer Mutter.

Als freie Journalistin für den SWR arbeitet Katharina Thoms vor allem tagesaktuell. Das heißt, sie ist stets so gut informiert, dass sie ihre Berichterstattung am Tag selbst fertigstellen kann. Bei ihrem ersten großen Projekt sah das anders aus. Eine Hörfunk-Reportage hat sie auf ein Thema gestoßen, das sie länger begleiten wollte: Den Mössinger Generalstreik. Mössingen gehört zum Landkreis Tübingen in Baden-Württemberg und war damals ein Industriedorf. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten rief die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) zu „Massenstreiks“ auf – deutschlandweit. Und während in Mössingen der Aufstand geprobt wurde, blieb es im Rest von Deutschland weitestgehend still. Und das galt auch für die spätere Erinnerung an den Mössinger Generalstreik.

Als studierte Historikerin war Katharina Thoms natürlich neugierig: Was ist damals geschehen? Und warum weiß kaum jemand von dem Ereignis? Sie beschließt, einen Film über den Mössinger Generalstreik zu drehen. „Widerstand ist Pflicht“ wird er später heißen – aber bis der Film fertig gestellt ist, wird jede Menge Zeit vergehen. Weit mehr Zeit als für einen tagesaktuellen Bericht.

„Es war ein Versuch, auf eine demokratische Art gegen etwas vorzugehen. Umstritten ist dort auch, dass natürlich Gewalt passiert ist auf dieser Demonstration und dass man darüber aber reden muss. Das allerwichtigste ist für mich: Wir müssen darüber reden. Wir müssen darüber reden, wie diese Auseinandersetzung damals war und wie wir heute damit umgehen. Klar.“

Katharina Thoms, freie Journalistin

Am Ende sitzt Katharina Thoms mit 80 Stunden Drehmaterial da. Eine riesige Herausforderung. Schließlich ist ihr Anspruch, alle Seiten zu Wort kommen zu lassen – und auch die persönlichen Geschichten zu erzählen, die rund um das Ereignis stattgefunden haben.

„Mein großer Appell ist: Hey, redet mal miteinander. Ist immer gut!“

Katharina Thoms

Eine Multimediareportage über Meßstetten

Auch ihr zweites großes Projekt beginnt mit dem Buchstaben M. Und auch hier führt eine aktuelle Geschichte zu der Idee: Darüber müsste man eigentlich längere Zeit berichten. Und deshalb geht sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Sandra Müller der Frage nach: Was passiert eigentlich mit einem 5.000-Seelen-Ort wie Meßstetten, wenn dort ein Erstaufnahmelager für Geflüchtete eingerichtet wird? Erstaufnahmelager – das hieß damals 1.000 neue Menschen.

In dem Pageflow-Projekt „Jeder Sechste ein Flüchtling“ berichten die Journalistinnen regelmäßig aus Meßstetten. Sie sprechen mit den Einwohnern, der Polizei, gehen in das Erstaufnahmelager und nehmen sich dabei vor allem eins: Zeit zum Zuhören. So werden unterschiedliche Perspektiven beleuchtet, kommen Sorgen und Ängste zur Sprache, aber eben auch Lösungen.

„Der lange Atmen und dieses in Ruhe hinschauen – wir haben alle drei Monate ein neues Kapitel veröffentlicht online – das hat auch sehr viel mit den Leuten vor Ort gemacht.“

Katharina Thoms

Es entsteht ein Austausch mit den Einwohnern – und es entsteht Vertrauen. Denn inzwischen wissen die Menschen in Meßstetten: Da sind zwei Journalistinnen, die schauen genau hin, die hören zu und lassen uns auch mal reden. Die kommen nicht nur vorbei, berichten kurz und sind dann wieder weg. Stattdessen gibt es Zeit für Fragen und für das Besprechen von möglichen Problemen. Eine Arbeit, die auch auf die Meßstetter selber Einfluss hat:

„Das haben die Leute dann auch wieder zurückgespiegelt, glaube ich, in den Ort. Dass man sagt, da ist jemand, der sich wirklich für uns interessiert, und manchmal hat es eben auch so ein bisschen den Druck rausgenommen, der da ist, wenn einem eben keiner zuhört.“

Katharina Thoms

Die Webdoku über Meßstetten wurde übrigens 2015 in der Kategorie „Information“ für den Grimme Online Award nominiert.

Ein Podcast über Mutta

Auch das neue Projekt von Katharina Thoms beginnt – ihr habt es sicher schon erraten – mit einem M. „Mensch Mutta“ heißt es und ist ein Podcast-Projekt. Diesmal ist kein Sender beteiligt. Für Katharina Thoms eine bewusste Entscheidung, denn das hier ist eine Familiengeschichte. Und persönliche Geschichten müssen manchmal genau so erzählt werden, wie sie aus einem rauskommen – ohne, dass sich eine Redaktion dazwischen schaltet. Am Anfang steht die Frage: Was ist eigentlich ausgerechnet am Leben meiner Mutter so spannend? War ihr Leben nicht schrecklich normal?

„Erst so im Laufe der Jahre und vor allem mit dem Abstand ist mir klargeworden, dass das Leben meiner Mutter gar nicht so normal ist und so durchschnittlich, und die Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen hat zu der Zeit, in den 60er und 70er Jahren.“

Katharina Thoms

Ohne hier spoilern zu wollen: Das Leben von „Mutta“, die im Podcast herrlich berlinert, ist alles andere als normal. Sie ist alleinerziehende Mutter, arbeitet – und lebt in der DDR. Und obwohl sie – wie sie selber sagt – kein Kämpferherz ist und auch keine Revoluzzerin, gerät sie immer wieder mit dem System in Konflikt.

Katharina Thoms selber ist 10 Jahre alt als die Mauer fällt. Aber es geht nicht nur um West und Ost. Es geht auch um Gespräche zwischen Mutter und Tochter. Und darum – ja, genau – miteinander zu reden. Und zuzuhören. Denn mal ehrlich: Wer interessiert sich schon wirklich für das Leben seiner Eltern? Das fällt uns meistens erst sehr spät ein, unsere Eltern danach zu fragen. Manchmal auch zu spät.

„Ich weiß nicht, ob meiner Mutter das so klar ist, aber ich hab mich natürlich plötzlich getraut, mehr Fragen zu stellen, das kann ich hier schon verraten, als wenn ich kein Mikrofon gehabt hätte zwischen uns beiden.“

Katharina Thoms

Und so fallen im Austausch mit der Tochter manchmal so lapidar klingende Sätze wie: „Na stimmt doch allet. Kann ick ja jetz allet erzählen – die Stasi kann mir ja nüscht mehr!“ – allein in diesem Satz steckt schon so viel Geschichte, und so viel, dass auch heute noch nachwirkt. Und genau deshalb an dieser Stelle eine allerwärmste Empfehlung für diesen Podcast: „Mensch Mutta. – Ein halbes Leben in der DDR.“