„Wir versuchen trotzdem den Schülerinnen und Schülern ein Stück Normalität zu geben.“

Bahar Aslan ist Lehrerin an einer Hauptschule in Gelsenkirchen. Sie unterrichtet an einer sogenannten Brennpunkt-Schule Englisch und Sozialwissenschaften. Ihre Schülerinnen und Schüler sind von der Pandemie noch stärker betroffen als viele andere. Denn vielen fehlen schlicht die Voraussetzungen, damit digitaler Unterricht sinnvoll eingesetzt werden kann. Nicht nur technisch, sondern auch räumlich und sozial.

Das Interview haben wir am 15. November 2020 geführt. Wer mehr von Bahar Aslan hören möchte, folgt ihr am besten auf Twitter.

„Diese Schule befindet sich – ich hasse dieses Wort, aber ich muss es so sagen – in einem sogenannten sozialen Brennpunkt.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Brennpunkt-Schule, das heißt, dass sich die Schule, in der Bahar Aslan unterrichtet, an einem Standorttyp der Kategorie 5 befindet. Kategorie 1 wäre ein sozial und ökonomisch sehr gut aufgestellter Standort – Kategorie 5 erfüllt diese Kriterien nicht. Bedingt durch den Standort gehen auf die Schule, an der Bahar Aslan arbeitet, vor allem Kinder, die einen schwachen sozioökonomischen Status haben. Viele der Kinder haben zugewanderte Eltern oder sind 2015 mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet. Andere Kinder sind mit ihren Eltern aus Rumänien und Bulgarien gekommen. Für Lehrer:innen heißt das, es kommen verschiedene Problemlagen zusammen in ihren Klassen. Eine große Herausforderung.

„Ich persönlich habe bei meinen Kindern selber das Gefühl, dass sie jetzt nicht Problemkinder sind. Ich würde es eher so beschreiben, dass das Kinder sind, wo wir als Gesellschaft versagt haben, denen gerechte Chancen zu bieten. Zum Teil haben auch die Elternhäuser versagt.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Die Kinder, sagt die Lehrerin, sind in Elternhäuser hineingeboren, in denen sie nicht die Förderung bekommen haben, die ihnen zustehen sollte. Aber auch das Bildungssystem hat versagt, weil es darin nicht möglich war, diese Defizite aufzufangen und die Kinder trotzdem zu fördern. Der Begriff „Brennpunktschule“ stigmatisiert die Kinder, die weder etwas für ihren sozioökonomischen Status können noch für die Umgebung, in der sie aufwachsen.

Um es kurz zu sagen: Schon vor der Pandemie war die Lage an der Schule in Gelsenkirchen eine große Herausforderung für die Lehrkräfte. Dabei ist die Schule technisch sehr gut ausgestattet für eine Hauptschule, sagt die Bahar Aslan. Es gibt in jedem Klassenraum ein Smartboard, es gibt einen PC mit funktionierendem Internet, einen funktionierenden Drucker, eine Dokumentenkamera. Damit lässt sich also schon mal sehr gut digital arbeiten. Und trotzdem ist die Corona-Krise für ihre Schülerinnen und Schüler eine noch größere Herausforderung als für viele andere Kinder.

Für den Online-Unterricht gab es zu Beginn der Pandemie keine geeigneten Tools. Das heißt, es gab zum Beispiel keine Online-Lernplattform, auf der schon vorher mit Schüler:innen gearbeitet werden konnte. Da gab es also weder von Lehrer:innen noch Schüler:innen Vorerfahrungen. Die Stadt Gelsenkirchen reagiert aber schnell und stellt kurzfristig eine Online-Lernplattform zur Verfügung. Auf dieser Plattform können die Lehrkräfte die Unterrichtsmaterialen hochladen, damit Schüler:innen sie sich zu Hause wieder runterladen können. Vorausgesetzt sie haben einen Internetanschluss. Oder einen eigenen PC. Oder einen Drucker. Oder ein internetfähiges Smartphone.

„Problematisch wurde es dann als es Schülerinnen und Schüler gab, die nicht die nötigen Endgeräte hatten, um sich Zugang zu den Lernangeboten zu verschaffen.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Gerade Familien mit mehreren Kindern stellt das ökonomisch vor eine unlösbare Aufgabe. Auch für diese Schüler:innen wird eine Lösung gefunden: Sie können sich ein Mal in der Woche ihre Unterlagen in der Schule abholen. Die bearbeiteten Aufgaben fotografieren sie ab und schicken sie per Messenger an die Lehrerinnen und Lehrer. Ein zusätzliches Problem ist, dass viele Kinder in beengten Wohnverhältnissen leben. Da teilen sich zwei, drei oder mehr Kinder ein Zimmer. Das heißt, es fehlen auch Rückzugsorte, an denen die Kinder in Ruhe lernen können.

Für diese Kinder ist Schule nicht nur ein sozialer Ort, an dem sie Freunden begegnen, sondern auch der Ort, an dem sie ihre Persönlichkeit entwickeln und gestalten können. An dem sie größeren Freiraum genießen als zu Hause. Und zwar nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinne. Vielen Kindern wird durch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie dieser Ort genommen. Wobei es an dieser Stelle nicht darum geht, die Maßnahmen als solche abzulehnen. Es gibt weder Erfahrungen mit, noch einen Masterplan für den Umgang mit Bildungsstätten in einer Pandemie. Aber es ist wichtig, die Auswirkungen in den Blick zu holen. Auch, um erneute Maßnahmen sinnvoll anpassen und gestalten zu können.

Genau das ist Bahar Aslan zu kurz gekommen. Die Situation an Schulen wie ihrer war in ihrer Wahrnehmung weder in den Medien noch in der Politik groß Thema. In den Berichten, die sie gelesen und gesehen hat, kamen vor allem Kinder aus weißen, gut situierten und bildungsnahen Familien vor, die von ihren Eltern entsprechend unterstützt und gefördert wurden. Ihre Schülerschaft hat sich darin nicht widergespiegelt.

„Es ist mir zu kurz gekommen, auf die prekäre Situation von Schülerinnen und Schülern hinzuweisen, die eben nicht in so einer privilegierten Situation sind. Und ich hätte mir gewünscht, dass die Berichterstattung sich auch auf diese Kinder konzentriert hätte.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Damit haben ihrer Meinung nach Medienschaffende die Chance verpasst, auf Defizite im Bildungssystem hinzuweisen, die durch die Pandemie noch deutlicher hervortreten als ohnehin schon. Es wäre auch eine Chance gewesen, nach Lösungen zu suchen, durch die die Situation der Schüler:innen verbessert werden kann.

Geld für Schulen ist nicht angekommen

Obwohl der Bund im Rahmen des Digitalpakt Schule im Mai 100 Millionen Euro Soforthilfe für Schulen zur Verfügung gestellt hat: An der Schule von Bahar Alsan ist das Geld bislang nicht angekommen. Einen von ihr beantragten Dienstlaptop, mit dem sie zum Beispiel digitale Inhalte direkt auf den Beamer in der Schule schicken kann, wird ihr frühestens im nächsten Frühjahr, also 2021, zugesagt. Und das gilt nicht nur für Lehrkräfte, sondern auch für Endgeräte, die den Schüler:innen zur Verfügung gestellt werden sollen.

Dabei begleitet das Thema „Digitalisierung an Schulen“ Bahar Aslan schon seit dem Studium. Immer wieder wird darüber diskutiert, wie man Schulen besser ausrüsten kann, wie digitaler Unterricht sinnvoll gestaltet werden kann, wie Schüler:innen mit entsprechenden Endgeräten ausgerüstet werden können. Nur passiert ist in der ganzen Zeit viel zu wenig. Auch hier zeigt die Pandemie die Versäumnisse der vergangenen Jahre schonungslos auf.

„Es ist ja auch ein wichtiges Lernziel an Schulen, dass wir Schülerinnen und Schüler nicht nur zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erziehen, sondern auch zu Schülerinnen und Schülern, die selbstbewusst und kompetent mit digitalen Medien umgehen können.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Das Vermitteln von digitaler Kompetenz ist sogar in den Lehrplänen verankert. Aber die Realität hinkt den Lehrplänen hinterher. Für Bahar Aslan ist das unerklärlich.

Neustart nach dem ersten Lockdown

Nach dem ersten Lockdown dürfen die Schüler:innen zunächst ein Mal die Woche wieder in die Schule kommen und am Präsenzunterricht teilnehmen. Die Abschlussjahrgänge der 10. Klassen durften täglich in die Schule, weil ihr Abschluss Priorität hatte. Die Klassen 5 bis 9 sind einmal die Woche in getrennten Gruppen zum Unterricht erschienen. Mit Abstand und Maske.

Auch wenn es für die Kinder psychologisch wichtig war, wieder zur Schule gehen zu können. Lerninhalte konnte Bahar Aslan mit so wenig Präsenzunterricht kaum vermitteln. Das liegt nicht daran, dass die Kinder nicht motiviert waren. Viele von ihnen haben Lernschwierigkeiten. Ihnen fehlt die Unterstützung und Förderung im Elternhaus, die Möglichkeit nachfragen oder sich bestimmte Dinge nochmal erklären lassen zu können. Und auch das selbständige Lernen ist eine Fähigkeit, die Kinder erst entwickeln müssen. Eine Fähigkeit, die eigentlich erst mit dem Abschluss als entwickelt gilt. Eine, die zum Beispiel zum Studieren befähigt. Es ist also ohnehin enorm viel verlangt von den Kindern. Bahar Aslan wird vor allem bei ihren Schüler:innen immer wieder klar, wie wichtig Schule als Lernort ist.

„Der Abschluss, den sie bekommen nach der 10. Klasse, ist für diese Kinder zukunftsweisend und auch lebensrettend. Weil nur mit einem guten Abschluss haben sie die Möglichkeit, aus diesem Teufelskreis auszubrechen.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Als Bahar Aslan nach den Sommerferien endlich wieder gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern im Klassenraum ist, stellt sie fest: Das, was sie in den wenigen Stunden Präsenzunterricht vermitteln konnte, hat nicht gereicht, um den Unterricht, der im ersten Lockdown weggefallen ist, zu kompensieren. Und das, obwohl alle fleißig die ihnen gestellten Aufgaben bearbeitet haben. Aber gerade im Englisch-Unterricht ist es eine Herausforderung, die Kinder zu unterrichten. Denn für viele ist bereits Deutsch eine Zweitsprache. Und über diese Zweitsprache sollen sie jetzt eine Drittsprache lernen.

„Ich hab ein Schülerklientel, bei dem es wichtig ist, dass ich vorne stehe und denen das auch immer wieder eins zu eins erkläre. Ich kann denen nicht einfach Aufgaben mitgeben uns sagen: du studierst das jetzt zu Hause alleine. So läuft das nicht.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Es geht eben nicht nur um den Stoff. Auch die Bindung zur Lehrkraft unterstützt dabei, dass Lerninhalte besser hängen bleiben. Für Bahar Aslan bedeutet das, in der 6. Klasse jetzt erstmal den Stoff der 5. Klasse zu wiederholen. Obwohl das Curriculum bereits ganz andere Inhalte vorsieht. Aber die Lehrerin sieht keine Chance, dieses Curriculum einzuhalten. Bis Weihnachten will sie damit durch sein, um dann im zweiten Halbjahr mit dem Stoff der 6. Klasse zu beginnen. Eigentlich darf sie das nicht, denn die Lehrpläne sind für Lehrer:innen bindend.

„Ich befinde mich gerade in einer Ausnahmesituation aufgrund der Pandemie. Und die zweite Ausnahmesituation ist, dass ich an einer Schule unterrichte, wo ich sowieso lernschwache Kinder habe.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Aber nicht nur die Lerninhalte und deren Vermittlung bereiten den Lehrkräften Sorgen. Die Pandemie hat ja auch gesundheitliche Folgen. Auch für die Kinder. Oder deren Eltern. Wenn Lehrer:innen in Quarantäne müssen, dann fällt erneut ein Großteil des Unterrichts aus. Und an der Schule, an der Bahar Aslan arbeitet, gibt es ohnehin schon zu wenig Lehrpersonal. Viele Lehrer:innen finden den Job an einer Hauptschule nicht besonders attraktiv. Auch der Standort Gelsenkirchen wird von vielen nicht als attraktiv wahrgenommen. Das ist halt was anderes als ein Gymnasium in Köln-Lindenthal.

„Ich kann sagen bei uns sind ganz viele Lehrer:innen weggefallen, aufgrund der Tatsache, dass sie zur Risikogruppe gehören.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Es gibt also nicht nur einen Lehrermangel, weil zu wenige Lehrkräfte ausgebildet werden, sondern auch schlicht zu wenige Bewerber, um das ohnehin schon knappe Personal aufstocken zu können. Zum Wohle der Schülerinnen und Schüler bemühen sich alle nach Kräften, den Ressourcenmangel irgendwie zu kompensieren. Aber wenn sie ehrlich ist, sagt Bahar Aslan, kommt sie da manchmal einfach an ihre Grenzen.

„Wir versuchen trotzdem den Schülerinnen und Schülern ein Stück Normalität zu geben in einer Situation, in der nichts normal erscheint.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Auch, weil sie nicht weiß, ob sie mit den geltenden Maßnahmen den Kindern gerecht werden kann. Maßnahmen, die sich seit den Sommerferien mehrfach geändert haben. Und die auch an Bildungseinrichtungen nicht wirklich sinnvoll umgesetzt werden können, solange alle Schülerinnen und Schüler zeitgleich den Unterricht besuchen. So gab es zwar nach den Sommerferien eine Maskenpflicht in den Schulen, aber die Abstandsregeln konnten gar nicht eingehalten werden. Auf den Schulhöfen waren die Kinder trotzdem dicht beieinander. Und auch in den Bussen ist es nicht möglich, genügend Abstand zu halten. Denn die sind zu Schulbeginn und Schulende einfach immer überfüllt.

„Ich hab 25 bis 30 Kinder in den Klassen sitzen. Auch mit Maskenpflicht bedeutet das nicht, dass das Ansteckungsrisiko sinkt. Die Kinder kommen gemeinsam zur Schule. Vor der Schule umarmen die sich, die küssen sich. Das bedeutet, eine Ansteckung ist sowieso gegeben.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Da hilft auch kein Lüftungskonzept, durch das die Aerosole in den Klassenzimmern reduziert werden. Auch als Lehrerin ist es Bahar Aslan bei so großen Klassen kaum möglich, den nötigen Abstand zu halten, dafür sind die Räume zu klein.

Ideal fände Bahar Aslan es, eine Situation wie vor den Sommerferien zu haben. Mit kleineren Gruppen, so dass es auch gewährleistet ist, Abstand zu halten. Zum Beispiel in den Pausen oder auf den Fluren. Einfach, weil sich insgesamt weniger Schüler:innen den Schulraum teilen. Auch ein Wechselbetrieb aus Präsenz- und Digital-Unterricht wäre denkbar, wie ihn sich eine Schule in Solingen ausgedacht hat. Der Schulleiter hatte entgegen einem Verbot der NRW Landesregierung die Klassen halbiert, um den Infektionsschutz zu verbessern. Statt Anerkennung für die gute Idee und das ausgeklügelte Konzept, gab’s Ärger für den Schulleiter. Der kämpft gemeinsam mit der Stadt Solingen weiter für den Sonderweg.

Solingen lag Anfang November an der Spitze der Infektionszahlen. Allein 283 Lehrer und 2271 Schüler:innen mussten Stand 4. November 2020 in Quarantäne. 12 Lehrer:innen und 80 Schüler:innen waren positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden. NRW-weit können 50.000 Schüler:innen nicht in den Unterricht gehen.

„Die Reaktionen, die daraufhin kamen, fand ich ganz ehrlich gesagt desaströs.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Bei Bahar Aslan stößt die Reaktion der Landesregierung auf Unverständnis. Statt eines Verbotes hätte man das Engagement wertschätzen können. Aus den Erfahrungen in Solingen hätten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden können, mit deren Hilfe im weiteren Verlauf die Situation für Schüler:innen und Lehrer:innen hätte verbessert werden können. Sie hätte es gut gefunden, wenn die Verantwortlichen der Landesregierung sich das Konzept vor Ort hätten zeigen lassen. Und auch mit dem Schulleiter in Austausch gegangen wären, um sich seine Expertise einzuholen.

„Von dem, was ich mitbekommen und gelesen habe, ist das ein ziemlich gutes Konzept. Und es könnte als Vorbild dienen, wo wir insgesamt als Schullandschaft auch hin möchten. Man hätte diese Schule als Modellprojekt nehmen können.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Während der Artikel zu diesem Podcast entsteht, sitzen Bund und Länder wieder zusammen, um darüber zu beraten, ob neue und schärfere Maßnahmen beschlossen werden müssen, um die Pandemie einzudämmen. Bahar Aslan glaubt aber nicht, dass die Schulen im Zuge dieser Maßnahmen wieder geschlossen werden. Bislang ist nur vereinbart, dass die Weihnachtsferien früher beginnen, und zwar schon am 21. Dezember 2020.

„Ich glaube, dass die Schulen so lange wie möglich offen gehalten werden. Dass einzelne Schüler:innen in Quarantäne geschickt werden, und dass ansonsten der Schulbetrieb ganz normal weiter läuft.“ – „Hältst du das für sinnvoll?“ – „Nein. Ich halte das überhaupt nicht für sinnvoll.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Denn selbst wenn eine gesamte Klasse nach einem positiven Coronafall in Quarantäne geschickt wird – die Wahrscheinlichkeit, dass die Schülerin oder der Schüler außerhalb des Klassenverbandes, zum Beispiel in der Schule oder auf dem Schulweg, weitere Kinder angesteckt hat, ist enorm hoch. Die Cluster sind also gar nicht so eindeutig zu identifizieren.

Bahar Aslan wünscht sich, dass zwischen „Schulen komplett geöffnet“ und „Schulen komplett geschlossen“ auch die Grauzonen besser ausgelotet werden. Denn es gibt auch jenseits davon Lösungen, die es zum einen erlauben, Kindern Unterricht und Sozialkontakte zu ermöglichen, und zum anderen einen größeren Infektionsschutz bieten als ohne diese Maßnahmen.

Vor allem im Hinblick auf die aktuell viel zitierte Bildungsgerechtigkeit, die herangezogen wird, um die geöffneten Schulen zu rechtfertigen. Ein Umstand, den Bahar Aslan enttäuschend findet. Denn vor Corona hat sich niemand um Bildungsgerechtigkeit gekümmert. Und auch jetzt geht es im Kern eben nicht um Bildungsgerechtigkeit. Denn sonst würden gerade ihre Schülerinnen und Schüler viel mehr Aufmerksamkeit bekommen.

„An meiner Schule gibt es Schüler:innen, die durchaus intelligent sind, die durchaus was auf dem Kasten haben, die alles schaffen könnten, wenn sie nur die richtige Förderung hätten. Wenn euch Bildungsgerechtigkeit so sehr am Herzen liegt, würdet ihr euch überlegen, wie ihr diese Schülerinnen und Schüler empowern könntet.“

Bahar Aslan, Lehrerin an einer Hauptschule

Eigentlich wäre das jetzt eine gute Gelegenheit, sich genau diese Missstände im Bildungssystem mal anzusehen. Aber daran scheint die aktuelle Landesregierung wohl wenig Interesse zu haben. Das zumindest ist der Eindruck, der bei Bahar Aslan entsteht. Sie ist sich nicht mal sicher, ob die Politik Schulen wie ihre überhaupt auf dem Schirm hat, wenn es nicht gerade darum geht, Kriminalität in sogenannten Brennpunkten zu bekämpfen.

Übrigens auch ein Problem, das mit mangelnder Diversität einhergeht. Wären mehr Menschen wie Bahar Aslan, die in ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, wie viele ihrer Schüler:innen, in der Politik und den verschiedenen Ämtern im Bildungsministerien vertreten, gäbe es vielleicht auch ein größeres Problembewusstsein für solche Missstände.

« »

© 2024 Mensch, Frau Nora!. Theme von Anders Norén.