Wir müssen reden. Über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Über den Völkermord an den Bosniaken. Über Nationalismus und Faschismus in den Balkanstaaten.

INTERVIEW HIER ALS PODCAST HÖREN:

BEGLEITARTIKEL ZUM PODCAST:

Melina Borčak ist freie Journalistin und hat unter anderem für CNN, die Deutsche Welle und den RBB gearbeitet. Ich hab sie bei Twitter gefunden, weil ich über einen ihrer Tweets gestolpert bin. Zufällig. Es war ein Tweet zum 6. Dezember 2018. Darin erinnert sie an den Geburtstag der Antifaschistischen Frauenfront Jugoslawiens. In ihrem Tweet nennt sie acht Partisaninnen, die sich als Teil der Frauenfront im Zweiten Weltkrieg den Faschisten in den Weg stellten. Darunter ihre Ur-Großmutter Fatima. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe noch nie zuvor davon gehört.

Ein Bild von Partisaninnen im Zweiten Weltkrieg, das Melina Borčak ihrem Tweet beigefügt hat. Link führt zum Originaltweet

Melinas Ur-Großmutter Fatima hat sich im Widerstand engagiert, indem sie Partisanenkämpfer versteckt und als ihre Söhne ausgegeben hat. Wäre sie dabei erwischt worden, hätte das die Todesstrafe bedeutet.

Für mich der Ausgangspunkt, noch ein bisschen mehr über Melina Borčak zu erfahren. Und vor allem sie zu fragen, ob sie Lust hat im Podcast mit mir zu sprechen. Denn ihre Tweets haben mir die Tür geöffnet zu einem blinden Fleck in meinem Bewusstsein: den Geschehnissen rund um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien von 1992 bis 1997.

Bevor es los geht:

Ich möchte an der Stelle übrigens zwei Anmerkungen machen: Es geht hier in dieser Folge nicht darum, zu bewerten, ob ich es gut finde, dass Frauen – und auch Männer – an was auch immer für einer Front kämpfen und sich dabei gegenseitig verletzen und töten. Ich lebe in Friedenszeiten. Ich kann mir das weder vorstellen, noch beurteilen. Und grundsätzlich vertrete ich die Haltung, dass Krieg am Ende nur Verlierer produziert und deswegen zu verurteilen ist. Aber das kann ich jetzt sagen. Weil ich in einem Teil Europas lebe, in dem seit über 70 Jahren Frieden herrscht. Die Gegenwart verstehen wir aber nur rückwärts. Und deshalb ist es wichtig, diese Geschichten zu erzählen. Und auch den Anteil, den Frauen daran hatten. Dazu gehören auch Frauen, die im bewaffneten Widerstand gekämpft haben.

Zweitens: Melina Borčak ist Bosniakin. Sie erzählt die Geschichte aus ihrer Sicht, geprägt von ihren Erfahrungen als Teil einer ethnischen Gruppe, an der im Bosnienkrieg ein Völkermord verübt wurde. Sie erzählt als eine junge Frau, die mit ihrer Familie nicht nur verfolgt wurde, sondern ausgelöscht werden sollte. Sie ist geflüchtet, zurückgekehrt – und lebt seit drei Jahren wieder in Deutschland. Ihr geht es nicht darum, Vorurteile zu verbreiten. Im Gegenteil, sie hat ein sehr differenziertes Verständnis der Geschichte, das macht sie auch am Ende dieses Interviews noch sehr deutlich. Aber um einen Überblick dessen zu bekommen, was passiert ist, wird auch hier von Serben, Bosniaken und Kroaten gesprochen. Wohl wissend, dass Label keine Menschen machen und Nationalität oder Religion keine Gütesiegel sind.

Die Geschichte des Königreichs Jugoslawien

Für mich persönlich ist ziemlich viel neu in dieser Episode. Deshalb hat Melina Borčak die schwierige Aufgabe, denen, die so wenig wissen, wie ich, einen Überblick zu geben. Damit das nachvollziehbar bleibt, werde ich einfach hier und da ein paar Einschübe in den Podcast einbauen und erklären, worum es genau ging. Und – auch das sagt Melina Borčak gleich zu Beginn des Gesprächs – sie kennt sich vor allem mit der Geschichte auf der bosnischen Seite aus. Was in Mazedonien oder Slowenien im Einzelnen passiert ist, besprechen wir deshalb in diesem Interview nicht.

Also, fangen wir an: Melina Borčak startet ihre Erzählung mit dem Königreich Jugoslawien. Das Königreich Jugoslawien existierte von 1918 – 1941 und war ein Vielvölkerstaat, der „Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Kosovo und Nordmazedonien [umfasste]. Die Gebiete südöstlich von Triest sowie Istrien, heute Teile Sloweniens und Kroatiens, waren hingegen Italien zugeschlagen worden“, so steht es im Wikipedia-Artikel zum Königreich Jugoslawien.

Die Nazis haben dann 1941 zunächst Kroatien okkupiert, erklärt Melina Borčak. Die hatten aber auch durchaus eigene Interessen, mit den Nazis zu kooperieren, denn dort gab es bereits die faschistische Ustascha-Bewegung. Die Ustascha oder Ustasche wurde von Ante Pavelić im Januar 1929 in Italien gegründet und waren zunächst ein kroatischer rechtsextrem-terroristischer Geheimbund, der sich später zu einer faschistischen Bewegung entwickelte. Klingt jetzt nicht nach den netten Jungs, ehrlich gesagt.

Im Wikipedia-Artikel gibt zur Geschichte Kroatiens gibt es folgende Erklärung:

„Nachdem die Kroatische Bauernpartei die Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht abgelehnt hatte, übergab sie die Macht in Kroatien der faschistischen Ustascha-Bewegung unter der Führung von Ante Pavelić. Die Ustascha proklamierte am 10. April 1941 den „Unabhängigen Staat Kroatien“ (Nezavisna Država Hrvatska). Dieser formal unabhängige Staat wurde politisch und militärisch von Deutschland gestützt, insbesondere bei den ab 1942/43 aufkommenden Kämpfen gegen die jugoslawischen Partisanen unter Führung des Kroaten Josip Broz Tito und anfangs gegen die monarchistisch-jugoslawisch orientierten Tschetniks. Ab 1942 kämpften einzelne Tschetnik-Verbände in Kroatien an der Seite der Ustascha gegen die kommunistischen Partisanen und wurden dafür vom NDH-Staat finanziell unterstützt.“

Geschichte Kroatiens, Wikipedia, abgerufen am 16.05.2019

Die Ustascha okkupieren neben Kroatien auch noch Teile von Bosnien und erklären sie als zum unabhängigen Kroatien gehörend. Damit war Bosnien im Westen von den Kroaten bedroht und im Osten von den faschistischen Tschetniks, die vor allem aus Serbien kamen. Die Tschetniks zeichnete vor allem folgende Ideologie aus:

„Die heutige Bedeutung der Selbstbezeichnung wurde im Zweiten Weltkrieg von der deutschen Besatzungsmacht in Jugoslawien als Sammelbegriff für die Angehörigen von völkischen und antikommunistischen serbischen bzw. montenegrinischen Milizen geprägt, die sich zu einer faschistischen Bewegung entwickelten. Darunter fiel auch die Jugoslawische Armee im Vaterland, die während des Zweiten Weltkrieges aus Tschetniktruppen bestehend unter der Führung von Dragoljub Draža Mihailović für die Wiedererrichtung des Königreichs Jugoslawien und die Errichtung eines Großjugoslawien mit einem ethnisch reinen Großserbien kämpften.

Der kroatische Historiker Vladimir Žerjavić schätzt, dass die Tschetniks während des Zweiten Weltkrieges etwa 29.000 Bosniaken und 18.000 Kroaten (vorwiegend Zivilisten) ermordet haben. Der Historiker Zdravko Dizdar schätzt, dass insgesamt etwa 50.000 Muslime und Kroaten ermordet wurden.“

Tschetnik, Wikipedia, abgerufen am 16.05.2019

Damit waren die Bosnier umzingelt von faschistischen Gruppierungen zu denen nicht nur die Ustascha und die Tschetniks gehörten, erklärt Melina Borčak:

„Und dann mussten die Leute dort gegen die Nazis, gegen die Ustascha, gegen italienische Faschisten, gegen serbische Faschisten, die Tschetniks hießen und gegen andere serbische Faschisten kämpfen, also es waren sehr viele, faschistische Gruppen.“

Melina Borčak

Wobei Melina Borčak einschränkt, dass es einen großen Unterschied gab zwischen Stadt und Land, was die Kämpfer in Bosnien angeht. In den großen Städten haben sich die Menschen als illegale Widerstandskämpfer organisiert. Sie haben gegen die Nazis und die Ustascha gekämpft, indem sie illegale Aktionen und Anschläge gegen geplant haben. An den Grenzen gab es dann die Front, an der Menschen auf dem Feld gegen Nazis, Ustascha und Tschetniks gekämpft haben.

„In den Dörfern war es nochmal anders, da waren die Leute einfach diesem Terror ausgeliefert. Da marschiert irgendeine Armee rein, egal ob italienische Faschisten sind oder deutsche oder serbische, egal und tötet alle, die sie vorfindet oder zwingt sie auf ihrer Seite zu kämpfen.“

Melina Borčak

Ein Trauma, das auch auf die Nachfolgegenerationen noch erheblichen Einfluss hat. Aber die junge Journalistin bleibt nicht bei den Traumata stehen. Stattdessen erzählt mir Melina Borčak von der Familie Maglajlić. Eine Familie, deren Mitglieder sich nicht nur im Zweiten Weltkrieg gegen die Faschisten gestellt hat, sondern auch 50 Jahre später wieder im Bosnienkrieg. Der bekannteste Name dürfte Vahida Maglajić sein. Sie war nicht nur Antifaschistin und Partisanin, sondern auch Frauenrechtlerin und wurde posthum für ihren Einsatz gegen die Nazis im Zweiten Weltkrieg als einzige bosnische Muslimin zur Volksheldin von Jugoslawien erklärt. Sie starb, wie auch drei ihrer Brüder, im Kampf gegen die Nazis.

Viele Menschen aus der Region, aus der auch die Maglajic-Familie stammt, kämpfen seit Generationen im Widerstand gegen den Faschismus, erzählt Melina Borčak:

„Einer der Menschen, der in der Armee war im letzten Krieg, hat gesagt: Ich hab das einfach in meinem Blut. Ich hab das in meiner Familie gelernt, dass man sich gegen Faschismus einsetzen muss. Auf jede Art, die man kann.“

Melina Borčak

Schon bei dem Massenmord an den Bosniaken im Zweiten Weltkrieg spricht Melina Borčak von Völkermord. Weil ich das genauer wissen wollte, habe ich versucht, das zu verifizieren. Ich habe aber weder im deutschen Kontext noch auf den Seiten der UN etwas dazu gefunden. Das Forschungsinstitut für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und internationales Recht an der Universität Sarajevo allerdings hat die Massenmorde im Zweiten Weltkrieg in mehreren Publikationen bereits als Völkermord eingestuft. Die Quellen sind vor allem auf Bosnisch verfasst, erklärt mir Melina Borčak. Warum die Einstufung von Kriegsverbrechen als Völkermord und die entsprechende Anerkennung in der Politik so kompliziert ist, könnt ihr übrigens nochmal in meinem Gespräch mit der Genozidforscherin Nikki Marczak nachhören.

Viele der ermordeten Bosniaken waren einfache Bauern. Etwas mehr als ein Viertel der Ermordeten, sagt Melina Borčak, waren Kinder unter vier Jahren. Allein in ihrer Familie wurden mindestens 23 Menschen am gleichen Tag ermordet. Was genau oder wie genau die Menschen ermordet wurden, weiß niemand mit Sicherheit.

„Wenn ganze Familien ausgelöscht werden, bleiben auch nicht viele Leute, um zu erzählen, was da genau los war.“

Melina Borčak

Wer nicht getötet wurde, wurde vertrieben.

Neuanfang nach Ende des Zweiten Weltkriegs

Nach Ende des Krieges sollten die Vertriebenen zurück in die Ruinen in Ost-Bosnien kehren. Eine völlig zerstörte Heimat. Die Bosniaken bauen die Orte im Osten Bosniens und im Sandžak wieder auf. Einer Region an der Grenze zu Serbien und Montenegro. Aus den Erzählungen ihrer Mutter und ihrer Oma weiß Melina Borčak, was das bedeutet. Wieviel auch ihre Familie währenddessen kämpfen musste, weil sie nicht nur unter den Folgen der Traumatisierung durch den Krieg, sondern auch unter extremer Armut gelitten hat. Nur 50 Jahre später wird all das wieder zerstört.

In der Stadt, in der auch Melina Borčaks Familie gelebt hat, und in den Dörfern drumherum, gab es vor dem Jugoslawien-Krieg 21.000 Muslime – nur wenige, wenn überhaupt, sind übrig geblieben. Genau Zahlen gibt es nicht. Und kaum jemand ist nach dem Krieg zurückgekehrt: „Einfach, weil die Kraft fehlt, nochmal von vorne anzufangen“, erklärt Melina Borčak.

„Da scheiden sich die Geister, ob es null oder vier oder ein Mann ist. Je nachdem, ob man die, die aus Angst konvertiert sind, dazurechnet.“

Melina Borčak

Das große Problem an der Stelle: Wenn kaum jemand überlebt hat, wie soll geklagt werden? Wer soll bezeugen, was passiert ist? Und wer hat die Kraft dazu, wenn es auch weiterhin erst mal darum geht zu überleben?

Obwohl der Jugoslawien-Krieg fast vor unserer Haustür stattgefunden hat – in Deutschland gibt es nicht allzu viel Bewusstsein über das, was dort passiert ist. Oder was es auch heute noch für die Überlebenden bedeutet. Ich selber war 14 Jahre alt und ich kann mich nicht erinnern, inwiefern das Thema in der Schule war. Also klar, wir haben das thematisiert. Und ich erinnere mich auch gut daran, dass wir über Sarajevo gesprochen haben. Aber danach? Habe ich ehrlich gesagt kaum etwas davon mitbekommen. Seit ich nicht mehr zur Schule gehe, ist das Thema quasi aus meinem Bewusstsein verschwunden. Vielleicht, weil ich niemanden kenne, der oder die davon betroffen ist. Oder es ist tatsächlich so, dass wir es – bis auf wenige Interessierte – einfach aus den Augen verloren haben. Für mich rücken diese Themen erst mit der Bearbeitung der Geschichte meines Großvaters wieder in mein Bewusstsein.

Für Melina Borčak ist dieses mangelnde Bewusstsein gegenüber dieser noch jungen Geschichte schwierig, denn es verhindert die Anerkennung dessen, was ihr und vielen anderen Bosniaken widerfahren ist. Und es fehlt schlicht eine Sensibilität gegenüber dem, was sie zu verarbeiten hat. Was ihr, ihrer Famiile und den Muslimen in Bosnien angetan wurde. Das gilt auch für ihre Heimat, die es so inzwischen gar nicht mehr gibt. Denn Bosnien ist aufgespalten in zwei Entitäten. Eine ist die Förderation, die andere die Republika Srpska – nicht zu verwechseln mit Serbien, einem Nachbarland im Osten. In der Republika Srpska (die rot eingezeichneten Teile auf der Karte) leben heute vor allem Serben, nachdem fast alle Nichtserben vertrieben oder getötet wurden.

Karte der ethnischen Gruppen in Bosnien Herzegowina, Stand 2017

Auch die Stadt, in der Melina Borčak geboren wurde, gehört heute zur Republika Srpska. Und in diesem Teil Bosniens wird das Massaker von Srebrenica, das von der UN nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes als Genozid klassifiziert wurde, immer noch geleugnet. Sowie auch von Serbien selbst, wie zum Beispiel in diesem Interview mit der serbischen Premierministerin Ana Brnabić bei der Deutschen Welle. Für die Überlebenden des Genozids ist diese Leugnung kaum zu ertragen.

„Nicht nur serbische Nationalisten, sondern eigentlich der Großteil der serbischen Bevölkerung in Bosnien und auch in Serbien leider, leugnet, dass da ein Völkermord passiert ist, obwohl es so viele Urteile gibt, die das bezeugen. Deshalb ist es hart für uns, wenn wir das immer noch beweisen müssen und gleichzeitig mit dem Schmerz kämpfen und überleben müssen.“

Melina Borčak

Bei der Leugnung allein bleibt es nicht. Es gibt auch immer wieder Menschen, die aus Hass auf Muslime den Völkermord sogar befürworten und äußern, dass das noch mal passieren müsse. Aber es ist nicht nur die anhaltende Leugnung des Völkermordes an den Bosniaken, die Melina Borčak Sorgen bereitet. Sie warnt auch davor, den immer noch starken Nationalismus im Balkan zu übersehen und zu unterschätzen.

„Deutschland ist ein sehr mächtiges Land für den Balkan. Was Merkel sagt, das ist Gesetz. Und deshalb ist es sehr schwer, wenn deutsche Politiker und die deutsche Gesellschaft so dermaßen ahnungslos sind, dass sie gar nicht erkennen, was für eine Gefahr von dieser Genozid-Leugung und auch von diesem krassen Nationalismus ausgeht.“

Melina Borčak

Auch vor diesem Hintergrund findet die Journalistin es schwierig, dass es in Deutschland so wenig Wissen über die Ursachen des Jugoslawien-Krieges in den 90ern gibt. Häufig hört sie, das sei halt alles so kompliziert. Da hätte sich ja im Prinzip jeder mit jedem im Krieg befunden. Für Melina Borčak eine Ausrede. Denn, sagt sie, so schwierig sei das gar nicht zu verstehen.

Der vergessene Krieg

Runtergebrochen auf die gröbsten Details sei es eigentlich eine ganz simple Situation. Slobodan Milošević war von 1991 bis 1997 Präsident der Republik Serbien, so steht es in der Wikipedia. Das Wort Diktator ist hier übrigens nicht erwähnt. Und es gibt Stimmen, die seine Herrschaft so einordnen, dass sie zwar von einem skrupellosen Machthaber, aber nicht von einem Diktator sprechen, weil es immer noch eine Opposition gab mit eigenen Medien. Andere Medien sprechen und schreiben in ihren Berichten aus und über die Zeit dennoch von einem Diktator und auch Melina Borčak bezeichnet Milošević so. Ich würde sagen, die Übergänge sind mitunter fließend. Das sehen wir auch heute in verschiedenen Ländern, deren Machthaber und Gesetzgebung sich zumindest hart an der Grenze zur Diktatur bewegen. Ich will mich auch gar nicht an der Definition aufhalten, wer das alles genauer wissen will, darf das gerne recherchieren. Ich will nur verdeutlichen: Es gibt dazu verschiedene Perspektiven.

Unter der Regierung Miloševićs wurde zuerst der Kosovo angegriffen, dann Slowenien, dann Kroatien, dann Bosnien – und nochmal der Kosovo. Zusätzlich gab es während dieser Zeit einen Angriff von Kroatien auf Bosnien. Das ist im Prinzip die Kurzfassung. Und natürlich wird es in den Details wieder komplexer. So weist Melina Borčak darauf hin, dass es in Bosnien eine Privatarmee eines muslimischen Millionärs gab, die zum Ziel hatte, andere Muslime zu ermorden.

Was die Journalistin ärgert, ist, dass sich kaum bemüht wird, ein differenziertes Bild von den Kriegen in Bosnien, Kroatien und Kosovo zu zeichnen. Dabei ist gerade das wichtig, wenn es darum geht, einen Völkermord nochmal gezielt von anderen Kriegsverbrechen zu unterscheiden.

„Man würde nie durchgehen lassen, dass einfach geschrieben wird: Zweiter Weltkrieg war halt chaotisch, da hat jeder jeden getötet, alle Seiten haben Kriegsverbrechen begangen. Man würde nie unter einen Beitrag über Auschwitz schreiben: Wieso schreibt ihr nicht über die Bombardierung Dresdens?“

Melina Borčak

Eine Haltung, die Melina Borčak auch auf Twitter vehement vertritt, wenn Menschen versuchen, den von der UN als Genozid anerkannten Massenmord an den Bosniaken abzuschwächen oder mit anderen Kriegsverbrechen zu vergleichen. Für diese Haltung bekommt die Journalistin regelmäßig Hasskommentare und -botschaften auf Twitter oder per Mail. Wer sich das antun möchte kann sich einfach mal die Kommentare unter folgendem Tweet durchlesen:

Es gibt genügend Zahlen, die recht deutlich machen, was passiert ist: 83 Prozent der zivilen Opfer waren Bosniaken. Von den restlichen 17 Prozent, und das betont Melina Borčak an der Stelle nochmal, waren – Zitat: „viele tolle, gute Serben und Kroaten“ – mit antifaschistischer Haltung. Und auch das ist der Journalistin wichtig: Die Anerkennung, dass der Kampf in Bosnien ein Kampf gegen den Faschismus war. Denn auch, wer versuchte, die Bosniaken zu verteidigen, zahlte das in der Regel mit dem Leben.

„Die wurden auch ermordet, wie man das aus anderen Völkermorden kennt, wenn sich Menschen dem widersetzen, was da passiert. Dann kann sie auch nicht retten, dass sie zu diesem ‚auserwählten Volk‘ sozusagen gehören.“

Melina Borčak

Auch an dieser Stelle verweise ich auch nochmal auf das Gespräch mit der Genozidforscherin Nikki Marczak. Auch sie verweist darauf, dass es – so schrecklich und grausam Kriegsverbrechen auf allen Seiten sind – dennoch eine Abstufung gibt. Völkermord, die systematische und geplante Ausrottung einer Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer gemeinsamen Merkmale, ist eine andere Kategorie von Kriegsverbrechen und deshalb gibt es dafür von der UN auch eine eigene Konvention.

Der Tag des Weißen Bandes

Ein Kennzeichen für den Völkermord an den Bosniaken wird am „Tag des weißen Bandes“ deutlich: Um im Nordwesten Bosniens alle Nicht-Serben identifizieren zu können, wurde ihnen befohlen, sich selbst mit weißen Bändern und ihre Häuser mit weißen Fahnen zu kennzeichnen. Das galt sowohl für Bosniaken als auch für katholische Kroaten. Wer ein solches Band trug oder an wessen Haus eine solche Fahne hing, wurde vertrieben, in Konzentrationslager deportiert – oder gleich ermordet.

Melina Borčak kennt viele Geschichten aus dieser Zeit. Eine davon hat sie 2017 für den Spiegel aufgeschrieben. Die von Mirso Muhic und seiner Familie.

Eine andere erzählt sie mir im Podcast: Während eine Flüchtlingskolonne sich aus der Zone wegbewegt, kommt ein britischer Journalist auf die Menschen zu. Einen der Flüchtenden fragt er: „Bist du Moslem oder Katholik“ – und der Mann antwortet: „Ich bin Musiker.“. Das ist mitnichten eine Feelgood-Geschichte. Sie erzählt vielmehr vom Verlust der eigenen Identität. Es zählt nicht mehr, wie du dich selber als Mensch definierst. Es zählt nur noch, in welche Schublade du gesteckt, welches Label dir aufgedrückt wird aufgrund irgendwelcher Zugehörigkeitsmerkmale, die dir vielleicht selber gar nicht wichtig sind.

„Die Selbstdefinition und die Identität der Menschen ist komplett egal.“

Melina Borčak

Erinnerungskultur in einem geteilten Bosnien

Diese Geschichte aufzuarbeiten ist enorm wichtig. Nicht nur auf Seiten der Opfer, sondern auch auf Seiten der Täter. Aber genau das gestaltet sich extrem schwierig. Während die Föderation Bosnien-Herzegowina, in der Muslime, Roma und Kroaten zusammenleben, sehr viel für die Aufarbeitung leistet, verschließt sich die andere Entität, die Republika Srpska in der heute fast nur Serben leben, fast völlig der Geschichte.

Es ist der Teil aus dem auch Melina Borčak und ihre Familie kommen. Damals kurz nach Ausbruch des Krieges, als dieser Teil eben noch nicht die von serbischen Nationalisten kontrollierte Entität mit dem Namen Republika Srpska war. Auch die meisten Roma haben vor dem Krieg dort gelebt. Auch sie sind, wie die Bosniaken, ermordet oder vertrieben worden. Während in der Föderation das Gedenken und die Aufarbeitung des Krieges zum Alltag der Menschen gehören, passiert im serbisch dominierten Teil so gut wie nichts. Obwohl bosnische Aktivist:innen hart dafür kämpfen, dass auch dort eine Aufarbeitung stattfindet und eine Erinnerungskultur etabliert wird.

„In der Föderation gibt es sehr, sehr, sehr viele Museen, Ausstellungen, Filme, Nachrichtenberichte – es gibt wirklich sehr, sehr viel Aufarbeitung, sehr viele Opferverbände, die selbst organisiert versuchen etwas zu tun. In der Republika Srpska ist es entweder verboten oder die Menschen stehen unter Druck oder werden bedroht.“

Melina Borčak

Und nicht nur das. Im Lager Trnopolje in der Nähe der Stadt Prijedor, in dem laut Anklageschrift des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICYT) mehrere hundert Menschen ermordet wurden, gibt es ein Denkmal an die serbischen Soldaten. Also genau an diejenigen, die dort Menschen gefangen gehalten und ermordet haben. Ein Denkmal für die ermordeten Kinder der Stadt darf dort nicht errichtet werden.

Überall sind die Spuren des Krieges sichtbar

Wie sehr der Krieg auch mehr als 20 Jahre nach seinem Ende noch zum Alltag der Menschen gehört, lässt sich an Städten wie Sarajevo erkennen. Dort erinnern Einschusslöcher in Hauswänden und Bombenkrater, die mit roter Farbe gefüllt wurden auch heute noch an die vierjährige Belagerung und den Beschuss der Stadt. Rose von Sarajewo nennt man diese zugeschütteten Krater. Immer dort, wo mehr als drei Menschen von einer Bombe getötet wurden. Und selbst, wenn heute alles friedlich erscheint: Zum Stadtbild gehören auch heute noch Menschen, die weinend vor einem der Denkmäler auf den Straßen stehen.

„Man merkt, dass manche Menschen am Krieg zerbrochen sind. Man merkt, dass manche Menschen psychisch darunter leiden unter den ganzen Traumata.“

Melina Borčak

Vis-a-vis des Vereins vergewaltigter Frauen und Kinder, in Melina Borčaks alter Nachbarschaft, war eines der Konzentrationslager, in dem so viele Menschen gefoltert wurden. Für die Menschen in Bosnien ist der Krieg von 1992 – 1997 längst nicht Vergangenheit. Er ist allgegenwärtig. Und sichtbar. Nicht zuletzt durch die vielen Kriegsversehrten und die Menschen, die auch nach Ende des Krieges noch durch Landminen verletzt wurden. Oder die mehr als 50.000 vergewaltigten Frauen, die bis heute mit den physischen und psychischen Folgen zu kämpfen haben.

Die Forderung des serbischen Präsident Aleksandar Vučić, man möge doch in die Zukunft schauen und nicht in die Vergangenheit, klingt angesichts solcher Tatsachen mindestens absurd.

„Das ist unsere Gegenwart. Und das wird auch vielleicht unsere Zukunft sein, wenn wir so tun als ob es die Vergangenheit wäre.“

Melina Borčak

Für Melina Borčak ist es wichtig, dass weiterhin darüber gesprochen wird. Nicht nur in Bosnien, sondern auch in Deutschland. Denn hier leben viele Bosnier, die damals flüchten mussten – und keine Heimat mehr haben, in die sie zurückkehren könnten, weil der Teil, in dem sie gewohnt haben, heute von serbisch-nationalistischen Genozidleugnern kontrolliert wird. Und weil es auch heute noch gefährlich für sie wäre, dorthin zurückzukehren.

Für viele Bosnier war Deutschland aber nicht erst nach Ausbruch des Krieges ein Einwanderungsziel. Viele sind bereits vorher als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, erklärt Melina Borčak. Und sie waren bereits Teil der deutschen Gesellschaft als der Krieg in Bosnien anfing. Als der Krieg ausgerechnet an Bayram, einem hohen muslimischen Feiertag, ausbrach, waren viele in Deutschland lebende Bosnier zu Besuch bei ihren Familien. Damals hat ein deutscher Journalist im Konzentrationslager Manjača, in der Nähe der Stadt Banja Luka, gedreht. Den Film hat Melina Borčak bei ihren Recherchen entdeckt. Der Reporter spricht einen der Männer an, die im Konzentrationslager festgehalten werden. Er antwortet in fließendem Deutsch. Was aus diesem Mann geworden ist, der bereits viele Jahre in Deutschland gelebt hat, kann ich an dieser Stelle nicht klären.

Ich frage mich aber, wie viele Bosnier zu diesem Zeitpunkt wohl nicht an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt sind. Ob sich irgendwer dafür interessiert hat. Und ob es überhaupt möglich gewesen wäre etwas zu tun, ohne dass die betroffenen Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft hatten. Worüber ich mir aber noch viel mehr Gedanken mache: Dass ich selber solche Geschichten einfach nicht kenne – und nie mitbekommen habe. Und – das sag ich auch im Gespräch mit Melina Borčak immer wieder – es beschämt mich einfach, das alles nicht zu wissen.

Es geht auch um Anerkennung

All das macht in der Summe die Aufarbeitung dessen, was so viele Menschen im Bosnienkrieg erlebt haben, schwierig. Vor allem für die Überlebenden dieses Krieges, die Opfer des Genozids, von Verfolgung, Deportation, Folter, Vergewaltigung. Es fehlt schlicht an einer großen, öffentlichen Anerkennung dessen, was dort passiert ist. Von der serbischen Regierung, aber eben auch in Deutschland.

Wie erfolgreich die Strategie der Genozidleugnung ist, zeigen zwei Geschichten, die Melina Borčak mir im Verlauf unseres Gesprächs erzählt. Denn als vor einigen Jahren ein neues Massengrab gefunden wird, behauptet ausgerechnet eine Kommilitonin, mit der sie in Sarajevo Journalismus studiert, das seien doch eh nur Hundeknochen. Auf einer journalistischen Konferenz auf der eine Dokumentation über bosnische Flüchtlinge gezeigt wird, die nach Montenegro geflohen waren und von dort in die Hände der serbischen Armee deportiert wurden, erkennt eine Teilnehmerin den Vater eines Freundes wieder. Für eine der serbischen Teilnehmerinnen eine Überraschung: Sie begreift erst da, dass das, was sie gesehen hat, wirklich passiert ist.

Kein Zurück mehr

Wie groß der Verlust ist, den Vertrieben und Verfolgte erleiden, erzählt Melina Borčak regelmäßig auf Twitter und in ihrem Film für das Y-Kollektiv, der Ende April 2019 auf Youtube veröffentlicht wurde.

Seit sie als Baby mit ihrer Familie nach Deutschland geflüchtet ist, war sie nicht mehr in ihrer Geburtsstadt – obwohl ihre Familie nur wenige Monate nach Kriegsende zurückgekehrt ist. 200 Jahre lang war dieser Ort das Zuhause ihrer Vorfahren – jetzt gibt es diesen Ort nicht mehr. Und damit keine Rückkehr. Wie es dort aussah, weiß sie nur aus Erzählungen ihrer Mutter und ihrer Großmutter. Alle Fotos, alle Erinnerungsstücke wurden verbrannt.

Ein einziges Mal ist Melina Borčak durch diesen Ort durchgefahren. Mit dem Auto. Nicht mal ausgestiegen ist sie. Als sie am Rathaus vorbeifahren, hängt dort ein großes Poster. Darauf zu sehen Ratko Mladić versehen mit den Worten: Unser Held. Ausgerechnet der Mann, der am 22. November 2017 vom UN-Kriegsverbrechertribunal des Völkermordes und vieler weiterer Kriegsverbrechen für schuldig befunden wurde.

Wo früher Melina Borčak, ihre Familie und viele weitere Bosniaken gelebt haben, wohnen heute fast ausschließlich Serben. In den Wohnungen, die früher anderen gehört haben. Menschen, die keine Chance haben, wieder dorthin zurückzukehren, geschweige denn, irgendwelche Ansprüche geltend zu machen.

„Die leben einfach weiter, als ob wir nie existiert haben.“

Melina Borčak

Wäre die junge Journalistin damals dort ausgestiegen und durch die Stadt gelaufen – ihr wäre wahrscheinlich nichts passiert. Aber es gibt Berichte, dass in dem ehemals bosnischen Teil, der heute zur Republika Srpska gehört, Moscheen angegriffen werden. Auch Rückkehrer wurden angegriffen und von der Polizei misshandelt. Das alles sind Berichte aus jüngster Zeit, sagt Melina Borčak. Direkt nach dem Krieg wurden Menschen, die versucht haben zurückzukehren, auch weiterhin ermordet.

Verpassen wir die Chance zu lernen?

Was Melina Borčak inzwischen beobachtet, ist aber nicht mehr Bewusstsein für die Situation im Balkan, weil die Geschichte zeigt, wozu der Nationalismus dort geführt hat. Es wird eher weniger, findet sie. Sowohl, was die Erinnerung an den Krieg betrifft, also auch was die Aufmerksamkeit und Beobachtung der aktuellen Entwicklungen angeht. Dabei wäre es gerade für Europa so wichtig, genauer hinzuschauen, damit sich diese noch junge Geschichte nicht wiederholt:

„Es ist etwas, woraus Europa sehr viel lernen kann.“

Melina Borčak

Zum Beispiel wenn es darum geht, zu begreifen, dass der europäische Frieden nicht selbstverständlich ist. Für die meisten von uns, die in Friedenszeiten geboren und aufgewachsen sind, ist es einfach nicht vorstellbar, dass es hier wieder zu Auseinandersetzungen mit Waffengewalt kommt. Doch nicht hier in Europa! Aber auch die Menschen in Syrien konnten sich nicht vorstellen, dass es dort zu einem langen, barbarischen und blutigen Krieg kommen wird, in dem Freund und Feind kaum noch auseinanderzuhalten sind, und in dem geächtete Kriegswaffen zum Einsatz kommen.

Auch im ehemaligen Jugoslawien haben die Menschen nicht glauben können, was vor ihrer Haustür passiert. Wie sehr der Hass, der dort gesät wurde, die Menschen vergiftet hat. Sie konnten es sich nicht mal dann vorstellen, wenn sie sehen mussten, wie Freunde oder Nachbarn deportiert wurden. Sie sind geblieben in der Hoffnung, dass es sie nicht treffen würde. Viele haben das nicht überlebt.

„Sehr viele Menschen sind gestorben, weil sie, obwohl sie flüchten konnten zu einem bestimmten Zeitpunkt, es nicht wollten, weil sie ihren Job nicht verlieren wollten. Sie dachten: Hier wird jetzt eine Woche geschossen, ich versteck mich im Keller – und dann ist es wieder gut.“

Melina Borčak

Selbst die, die geflüchtet sind, hatten die Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Melina Borčak war noch ein Baby, als sie mit ihrer Mutter quer durch Europa nach Deutschland flüchten musste. Als man ihrer Mutter neue Kleidung anbot, hat sie abgelehnt: „Nein danke, das brauchen wir nicht. Wir gehen bald wieder zurück.“. Da waren sie bereits ein Jahr unterwegs. Es soll vier Jahre dauern, bis die Familie zurückkehrt. Gezwungenermaßen freiwillig, weil nicht sicher war, ob die Aufenthaltsgenehmigung noch einmal verlängert würde …

„Krieg ist etwas so extremes – man kann sich nie dran gewöhnen. Man kann nie glauben, man kann nie fassen, dass das gerade passiert.“

Melina Borčak

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