9. September 1943 – in den frühen Morgenstunden wird in Berlin-Plötzensee der politische Häftling Theodor Franz Maria Hespers hingerichtet. Er wird mit einem Drahtseil um den Hals an einem Fleischerhaken erhängt. Zusammen mit drei weiteren Häftlingen. Vor ihm und nach ihm werden es noch viele, viele mehr sein. Er stirbt in den Blutnächten von Plötzensee. Er hinterlässt eine Frau und einen Sohn – meinen Vater.

75 Jahre ist das jetzt her. Und hier sitze ich. Eine deutsche Journalistin. Weiß, weiblich, gut gebildet trotz einer Herkunft als Arbeiterkind und damit unglaublich privilegiert. Hier sitze ich und genieße, wofür mein Großvater gekämpft und mit seinem Leben bezahlt hat: Demokratie und Freiheit. Eine Freiheit, die es mir ermöglicht, die Geschichte meines Großvaters zu veröffentlichen. Eine Freiheit, die es mir ermöglicht, mich ungestraft öffentlich zu äußern. Egal wo. Egal wie. Ob mit und durch ein Medium oder im Alleingang als Einzelperson. Ich darf alles veröffentlichen, was nicht den Gesetzen widerspricht. Ich dürfte, würde ich investigativ arbeiten, sogar veröffentlichen, was eigentlich lieber niemand zu Gesicht bekommen sollte. Denn die Pressefreiheit genießt hier in Deutschland einen besonderen Schutz. Noch.

Für viele meiner Kolleg:innen ist es selbstverständlich, dass wir in Deutschland diese Rechte genießen. Und trotzdem ist es – bei bestimmten Themen – für viele Kolleg:innen immer schwieriger, zu berichten. Mitunter sogar gefährlich. Sie werden beschimpft und bepöbelt. Ihnen wird Vergewaltigung an den Hals gewünscht, mit Tod und Verfolgung gedroht. Und inzwischen bleibt es nicht mehr nur bei diesen Drohungen. Inzwischen werden Journalist:innen auf offener Straße angegriffen, um sie an der Berichterstattung zu hindern. Weil ihnen vorgeworfen wird, sie machten ihren Job nicht ordentlich.

Seit Wochen beobachte ich still, was da draußen auf den Straßen passiert. Nur selten spreche ich über meine Gedanken dazu. Aber ich glaube, es ist an der Zeit, über das zu sprechen, was in mir vorgeht. Denn mir ist seit ich diesen Job mache sehr bewusst, was ich da tue. Vor allem bin und war ich mir immer der Gefahren bewusst, die dieser Job mit sich bringt. Denn ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen: Wer sich öffentlich politisch äußert, riskiert den Tod. Natürlich nicht in einer Demokratie. Aber was, wenn diese Demokratie irgendwann nicht mehr existiert? Was dann?

Und dann sehe ich, was in den Straßen von Chemnitz passiert. Höre und lese, wie hochrangige deutsche Politiker Wortneuschöpfungen in Umlauf bringen, die den Grundsätzen der Demokratie widersprechen und Menschenrechte mit Füßen treten. Die nahe legen, dass Menschen, die auf der Flucht sind vor wirtschaftlicher Not, vor Hunger, Krieg und Verfolgung, nur mal kurz Urlaub machen. Die behaupten, uns, den Deutschen, soll etwas weggenommen werden. Und das sind – muss ich inzwischen sagen – noch die harmloseren Dinge, die gerade passieren.

Nein, es ist inzwischen soweit, dass Journalist:innen öffentlich der Lüge bezichtigt werden. Dass ihre Recherchen und Fakten mit einem Satz als Unsinn vom Tisch gewischt werden. Sätze, die einem Berufsstand, der gerade mit größter Mühe versucht, irgendwie die eigene Glaubwürdigkeit wieder herzustellen, den Boden unter den Füßen wegziehen soll. Und noch ist es nur ein „Soll“. Denn noch gibt es genügend Menschen, die sich nicht davon täuschen lassen.

Aber was, wenn nicht? Ich habe gerade den Offenen Brief von Michel Abdollahi an die Bundeskanzlerin gelesen. Darin schreibt er:

Frau Bundeskanzlerin, ich mache mir Sorgen um meine Zukunft und ob ich in diesem Land überhaupt noch eine Zukunft habe. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Sorgen je haben werde, aber ich habe sie jetzt.

– Michel Abdollahi am 08.09.2018 in seinem Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel –

Und ganz ehrlich: Ich teile diese Sorge. Ich, eine deutsche Journalistin, mit weißer Haut, blonden Haaren und grünen Augen, deren Großvater von den Nazis wegen Hochverrats an einem Drahtseil in einer Exekutions-Garage in Berlin-Plötzensee ermordet wurde. Denn es werden nicht nur die „Ausländer“ sein, die verfolgt und verjagt werden, wenn der Rechtsextremismus über die Demokratie siegt. Jede und jeder von uns kann schneller durch das Raster fallen, als uns lieb ist. Homosexuell, physisch oder psychisch beeinträchtigt, falsche Meinung, falsche Frisur, falscher Lebensstil, falsche Religion, falsche Freunde … all das stand schon einmal zur Disposition.

Wenn wir zulassen, dass die Freiheit anderer Menschen in diesem Land beschnitten wird, dann lassen wir automatisch zu, dass unsere Freiheiten beschnitten werden.
Wenn wir zulassen, dass „richtig“ oder „falsch“ an äußeren Merkmalen festgemacht werden, dann verlieren wir alle.
Wenn wir zulassen, dass der Wert eines Menschen dadurch bestimmt wird, welchen Pass er bei sich trägt oder woher seine Eltern kommen, dann verlieren wir alle.
Wenn wir zulassen, dass Empathie, Mitgefühl und der Wunsch nach einem friedlichen Miteinander als Schwäche ausgelegt werden, dann verlieren wir alle.

Ich für meinen Teil bin aber nicht bereit, diese Freiheiten herzugeben. Ich möchte, dass diese Freiheiten, die ich genießen darf und die mir ein gutes und friedliches Leben ermöglichen, für alle Menschen gelten. Wie wir diese Freiheiten leben können, haben wir im Grundgesetz vereinbart. Ein Regelwerk, das auf der Grundannahme beruht, dass wir Menschen zwar einen gewissen Rahmen brauchen, damit wir uns nicht permanent an die Gurgel gehen, das uns aber grundsätzlich erst einmal allen die gleichen Türen öffnet. Und ja, über die Ausgestaltung dieser Grundsätze müssen wir weiter diskutieren. Da läuft längst nicht alles rund. Aber an diesen Grundsätzen selbst mag ich nicht rütteln.

Stattdessen möchte ich, so gut es geht, meinen Teil dazu beitragen, dass das erhalten bleibt, wofür mein Großvater gekämpft hat: Ein glückliches Leben, friedlich, gesättigt und froh. Für ALLE Menschen.