Eigentlich arbeitet Cosima Gill als freie Journalistin. In diesem Jahr war sie aber mal nicht aus beruflichen Gründen in Indien, sondern vor allem als Privatperson. Neben dem obligatorischen Besuch des indischen Teils ihrer Familie, war sie als Multiplikatorin oder Botschafterin für die Andheri-Hilfe im Norden Indiens unterwegs, um sich einige der Projekte der Hilfsorganisation anzusehen.

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Indien ist die größte Demokratie der Welt. Knapp 1,4 Milliarden Menschen leben dort. Regierungschef ist Premierminister Narendra Modi, von der rechtskonservativen Hindu-Partei BJP. Und wenn es in Deutschland und Europa nicht gerade so eine krasse Nachrichtenlage geben würde, dann würden wir das, was gerade in Indien passiert sicher auch intensiver verfolgen. Aber gegen das Attentat von Hanau, das Corona-Virus, die Situation der Geflüchteten an der türkisch-griechischen Grenze und die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen haben die Ereignisse in Indien wenig Chance auf die oberen Plätze der Nachrichtenredaktionen. Was einfach daran liegt, dass wir eben nicht alles gleichwertig auf einmal rezipieren können, sondern Themen nach Relevanz ordnen. Und je näher uns ein Thema ist, je unmittelbarer wir davon betroffen sind, desto höher ist die nachrichtliche Relevanz. Und – nur um das vorweg zu nehmen – das ist auch richtig so.

Damit wir das Thema aber trotzdem nicht aus den Augen verlieren, habe ich Cosima Gill direkt nach ihrer Rückkehr von der Multiplikatoren-Reise mit der Andheri-Hilfe in den Podcast eingeladen. Die Ereignisse in Indien beschäftigen nämlich auch sie und den indischen Teil ihrer Familie. Denn Cosima Gill hat einen indischen Großvater.

Seit letztem Sommer gibt es regelmäßig große Demonstrationen und mitunter auch Ausschreitungen in Indien, weil die Regierung unter Premierminister Narendra Modi die Rechte von Muslim:innen immer stärker einschränkt. Schon im August 2019 kam es zu groß angelegten Protesten, als der indische Bundesstaat Kaschmir seinen Sonderstatus verlor. Hunderttausende Menschen flohen aus dem Gebiet, darunter vor allem Muslime.

Seit Dezember gibt es erneut Proteste. Grund ist das neue Staatsbürgerschaftsgesestz, das von Premier Narendra Modi verabschiedet wurde. Das schließt muslimische Migranten im Prinzip davon aus, die indische Staatsbürgerschaft annehmen zu können. Bei den Protesten der muslimischen Community gegen dieses Gesetz kam es Ende Februar zu großen Straßenschlachten, auch in der indischen Hauptstadt Neu Delhi.

„Da geht es letztendlich darum, wer die indische Staatsbürgerschaft bekommen kann, wenn man von beispielsweise Migranten spricht, und da sind Muslime explizit ausgeschlossen.“

Cosima Gill

Es kam aber nicht nur zu Straßenschlachten bei Protesten. Muslim:innen wurden aktiv von Hindu-Nationalisten angegriffen. Ihren Wohnungen und Geschäfte wurden angezündet und sie wurden unter dem Einsatz massiver Gewalt aus ihren Wohngebieten vertrieben. Vor diesem Hintergrund kann man von regelrechten Pogromen gegen Muslime sprechen.

Die Verfolgung findet allerdings nicht durch den Staat selbst statt oder die Regierung, sondern durch die Bürger und militante Anhänger der rechtskonservativen, nationalistischen Partei BJP, die sich RSS nennen. Die RSS gibt es schon seit Jahrzehnten in Indien und die BJP gilt als politischer Arm dieser militanten Hindu-Nationalisten.

„Die Hindus werden, wenn man es einfach ausdrücken will, bevorzugt von der Politik. Das ist der Hintergrund.“

Cosima Gill

Es ist allerdings auch nicht so, dass die Regierung diese Pogrome aktiv verhindern würde. Im Gegenteil. Es finden sich immer wieder Aussagen von Politikern, die das Vorgehen gegen die muslimische Minderheit in Indien sogar unterstützen oder befeuern. Wobei Minderheit ein falsches Bild vermittelt, denn in Indien gehören zu dieser „Minderheit“ 170 Millionen Muslime.

Es verändert sich was in Indien

In den letzten Jahren ist Cosima Gill eigentlich jedes Jahr in Indien gewesen. Aber in diesem Jahr stellt sie einen krassen Unterschied fest. Die Menschen um sie herum, sind deutlich vorsichtiger geworden in dem, was sie öffentlich sagen. In fast jedem Gespräch, sagt Cosima Gill, merkt man die Anspannung zwischen Hindus und Muslimen. Und das hat sie vorher so nie erlebt. Auch Verwandte und Bekannte wollen öffentlich nicht mehr mit ihr über Politik sprechen.

„Man merkt einfach, dass sich viele nicht mehr trauen, öffentlich über Politik zu sprechen.“

Cosima Gill

Das war vorher nicht so, sagt Cosima Gill. Eigentlich kennt sie die Menschen in Indien so, dass sie liebend gerne über Politik diskutieren und ihre Demokratie als große Errungenschaft feiern. In indischen Talkshows wird so heftig über Politik debattiert, dass man oft gar nicht mehr weiß, wer eigentlich gerade spricht, weil alle durcheinander reden.

Unterwegs mit der Andheri-Hilfe

Für die Andheri-Hilfe war Cosima Gill allerdings nicht im Hotspot Neu Delhi unterwegs, sondern in den ländlicheren Gegenden von Nordindien. Die Andheri-Hilfe hat ihren Sitz in Bonn und engagiert sich seit 1967 für Hilfsprojekte in Indien. Gegründet wurde sie von der Berufsschullehrerin Rosi Gollmann. Cosima Gill kennt die Organisation noch aus ihrer Schulzeit. 2019 wurde sie von der Andheri-Hilfe gefragt, ob sie nicht bei einer Multiplikator:innen-Reise dabei sein möchte. Bei dieser Reise werden Menschen eingeladen, sich verschiedene Projekte der Hilfsorganisation anzusehen mit dem Ziel nach ihrer Rückkehr von den Eindrücken zu erzählen. Allerdings nicht zwingend in Form einer journalistischen Berichterstattung.

Und tatsächlich macht es für Cosima Gill einen Unterschied, eben nicht als Journalistin dabei zu sein, sondern als Privatperson. Zum Beispiel, weil sie sich nicht darauf konzentrieren muss, ein bestimmtes Thema umzusetzen und ihren Fokus auf eine bestimmte Geschichte zu legen. So kann sie das Erlebte viel offener auf sich wirken lassen und hat auch den Menschen anders zugehört. Dadurch hat sie stärker als sonst auch die Gesamtsituation erfasst. Eine tolle Erfahrung, sagt sie.

„Als Journalistin hat man ja immer spezielle Themen oder Recherchen und dann konzentriert man sich auch immer auf seine Recherche. Dadurch, dass ich mit einer Hilfsorganisation unterwegs war, war ich viel offener.“

Cosima Gill

Erste Station: Die Mica-Minen von Jharkhand

Die erste Station auf ihrer Reise führt in eine illegale Mica-Mine im Bundesstaat Jharkhand im Nordosten Indiens. Mica ist ein anderes Wort für Glimmer, gewonnen aus einem Stein, der sehr stark glänzende und schimmernde Partikel enthält. Dieser Glimmer ist zum Beispiel in Kosmetika, aber auch in Autolacken. Viele dieser Mica-Minen sind illegal. Auch der Großteil des Mica, das in Deutschland verwendet wird, stammt aus diesen illegalen Mica-Minen. Und in diesen Minen arbeiten nicht nur Erwachsene, sondern auch sehr viele Kinder, einige davon sind nicht mal sechs Jahre alt.

Der Hilfsorganisation geht es aber nicht darum, die illegalen Mica-Minen zu schließen. Die sind ohnehin verboten, sonst wären sie nicht illegal. Genauso wie Kinderarbeit in Indien zwar nicht gänzlich verboten ist, aber strengen Regeln unterliegt. Kinder unter 14 Jahren dürfen zum Beispiel nicht in Bergwerken arbeiten. Außerdem gibt es eine Schulpflicht für Kinder von 6 bis 14 Jahren. Genau hier setzt die Hilfsorganisation an.

Ihre Hauptanliegen sind die Förderung von Bildung, das Stärken von Rechten, Gesundheitsförderung, Klima- und Umweltschutz und das Sichern von Selbständigkeit. Bildung ist dabei ein absoluter Grundstein. Denn obwohl die Regierung Schulen gebaut hat, gibt es von staatlicher Seite kaum Lehrer:innen, die in diesen Schulen auch unterrichten. Denn die Menschen auf den Dörfern leben in einfachsten Verhältnissen, erklärt Cosima Gill und die Anreise ist beschwerlich.

„Man kommt auch gar nicht überall mit dem Auto hin, sondern man muss wirklich eine ganze Zeit auch den Weg zu Fuß zurücklegen. Und das haben wir gemacht.“

Cosima Gill

Die Schulen der Hilfsorganisationen bestehen häufig aus nicht mehr als einem Wellblechdach auf vier Holzpfosten. „Das ist schlechter als ein Carport bei uns“, sagt Cosima Gill. Aber es reicht völlig aus, um einen Klassenraum zu haben. Es sei ohnehin viel wichtiger, dass überhaupt eine Lehrerperson da ist oder eine Vertrauensperson, die auch wirklich zuverlässig jeden Tag ansprechbar ist.

Bis zu 40 Kinder kommen in so einen improvisierten Klassenraum. Es gibt Schuluniformen für alle und dann werden vor allem Basics vermittelt. Und zwar welche, die das Leben der Kinder unmittelbar betreffen. Wie zum Beispiel Grundwissen über Hygiene, damit die Kinder nicht krank werden. Und natürlich gehört lesen, schreiben und rechnen lernen dazu.

„Wenn wir sagen: ‚Ach, es wär doch toll, da noch ein paar Englischbücher hinzubringen‘, das ist so der erste Instinkt, den man vielleicht als Ausländerin hat, aber das ist Quatsch. Das ist vielleicht der zehnte Schritt.“

Cosima Gill

Am wichtigsten ist aber, dass die Kinder überhaupt jeden Tag die Schule besuchen können und dafür gilt es auch, die Eltern zu überzeugen, dass das langfristig von Vorteil für die ganze Familie ist. Denn wenn die Kinder in der Schule sitzen, statt in den Mica-Minen zu arbeiten, heißt das für die Familien, dass sie auf Einkommen verzichten müssen. Denn in der Gegend gibt es nichts anderes. Keine Industrie, keine Landwirtschaft und erst recht keinen Tourismus. Der Abbau von Mica ist damit die einzige Chance, überhaupt Geld zu verdienen.

Glimmer aus einer der illegalen Mica-Minen in Jharkhand.

Übrigens arbeiten trotz allem viele der Kinder, die regelmäßig in die Schule gehen, noch davor oder danach in den Mica-Minen, aber eben deutlich weniger Stunden. Die Mica-Minen sind übrigens keine Bergwerke, sondern der Mica-Abbau findet unter freiem Himmel statt. Das heißt, die Menschen sind allen Witterungsbedingungen ausgesetzt. Und im Winter ist es auch dort durchaus sehr kalt, während es im Sommer sehr heiß sein kann. Außerdem ist die Arbeit staubig und greift die Lunge an. Hinzu kommt, dass die Arbeit einfach auch sehr monoton ist.

„Trotzdem hab ich dort Menschen kennen gelernt, die sehr lebensfroh sind und sehr herzlich. Und das überrascht einen dann doch immer wieder.“

Cosima Gill

Und vielleicht ist das etwas, das wir mit westlichem Blick auf die Dinge auch immer wieder berücksichtigen müssen. Dass die Menschen eben nicht in ständiger Verzweiflung leben über ihre widrigen und bescheidenen Lebensumstände. Sondern dass das nunmal ihr Leben ist. Und das gilt es auch zu respektieren. Deshalb setzt die Andheri-Hilfe vor allem darauf, mit Organisationen vor Ort zusammen zu arbeiten und eben nicht von außen Hilfe überzustülpen. In den Projekten sollen nicht nur einzelne Bevölkerungsgruppen unterstützt werden, sondern ganze Gemeinschaften. Es ist wichtig, alle mitzunehmen. Die Kinder genauso wie die Eltern. Und gemeinsam für andere und neue Perspektiven zu sorgen. Perspektiven, über die aber die Menschen vor Ort bestimmen.

„Als Journalistin hab ich irgendwann so ’nen fertigen Film und kann das – das klingt jetzt so doof – aber eher abhaken. Und irgendwie hab ich jetzt das Gefühl, dass ich so ’nen Dauerauftrag bekommen habe.“

Cosima Gill

Auch Cosima Gill hat sich über solche Themen vor Ort viele Gedanken gemacht. Als Journalistin würde sie die in einem Beitrag oder in einer Reportage verarbeiten. Als Privatperson ist das aber anders, sagt sie. Um das Erlebte besser verarbeiten zu können, hat sie in ihrem instagram-Profil immer ein bisschen von ihrem Tag erzählt. Eine Art digitales Tagebuch im Prinzip, indem sie ihre Eindrücke mit anderen geteilt hat. Unter anderem mit Menschen wie mir, die so auch ein bisschen nach Indien reisen konnten.

Ein Slumprojekt in Hyderabad

Von Jharkhand ging die Reise weiter nach Hyderabad, um dort ein Slumprojekt zu besuchen. Der Slum, den Cosima Gill dort besucht hat, war allerdings kein klassischer Slum, sondern ein Slum, der sich bereits über 20 Jahre entwickelt hat. Das Spannende am Projekt vor Ort: In diesem Slum leben vor allem Haushälterinnen und die haben über die Jahre eine Gewerkschaft gegründet. Mit Hilfe dieser Gewerkschaft ist es ihnen gelungen, die Arbeitsbedingungen deutlich zu verbessern. So haben sie zum Beispiel dafür gekämpft, Urlaub bezahlt zu bekomme oder einen ganzen Tag bei ihren Arbeitgebern arbeiten zu können und nicht mehrere kleine Jobs haben zu müssen. Sie haben sogar Kindergärten vor Ort gegründet.

Damit diese Entwicklung stattfinden kann, hat die Andheri-Hilfe auf Erwachsenenbildung gesetzt und die Menschen im Slum zum Beispiel über ihre Rechte aufgeklärt. Auch hier ist die Andheri-Hilfe nicht einfach in einen Slum gekommen, um dort Entwicklungshilfe zu leisten. Stattdessen setzt die Organisation darauf, bereits bestehende Projekte vor Ort zu unterstützen. Finanziell, aber auch in der Umsetzung durch das Weitergeben von Wissen, dass durch die vielen bereits umgesetzten Projekte erworben werden konnte. Die eigentliche Arbeit leisten aber die Organisationen vor Ort, die sich über lange Zeiträume zum Beispiel Netzwerke schaffen und das Vertrauen zu den Menschen aufbauen, die sie unterstützen wollen.

„Die Hilfsorganisation vor Ort muss wahnsinnig viel Vorarbeit leisten, bevor ein Projekt überhaupt beginnt. Das ist schon echt krass.“

Cosima Gill

Und: Nicht jedes Projekt ist eine Erfolgsgeschichte. Denn es müssen viele günstige Bedingungen zusammen kommen, damit eine nachhaltige Entwicklung stattfinden kann. Dabei ist vor allem wichtig, dass die Menschen vor Ort ein Eigeninteresse an der Entwicklung haben und mitmachen wollen. Auch Politiker:innen vor Ort müssen mit ins Boot geholt werden. Wenn die zum Beispiel solche Projekte selber umsetzen wollen, weil sich damit Wählerstimmen holen lassen, dann sind externe Partner nicht so gern gesehen. Und auch Religion spielt mitunter eine Rolle, weil das zu Konflikten führen kann.

Wird ein Projekt umgesetzt, dann läuft es in der Regel vier bis fünf Jahre und wird ausschließlich von den indischen Partnern vor Ort betreut. Mit manchen Projekten bleibt der Kontakt aber auch länger bestehen. So wie eben zum Beispiel im Slum von Hyderabad.

Steinwälle gegen Wassermangel

Weiter ging’s auf der Reise in die Bundesstaaten Uttar Pradesh und Madhya Pradesh. Dort hat sich Cosima Gill Umwelt- und Klimaprojekte der Andheri-Hilfe angesehen. Denn in Indien sind die Folgen der Klimaerhitzung bereits deutlich zu spüren. So regnet es zum Beispiel seltener. Das heißt, die Bauern müssen lernen, das Wasser, das in der Monsunzeit vom Himmel fällt, aufzufangen, um langfristig die Felder bewässern zu können. Auch dann, wenn es eben trocken ist.

„Klimawandel ist da schon eine krasse Realität. Du merkst zum Beispiel einfach heißere Sommer, und dass Regen seltener wird.“

Cosima Gill

Eine der Hilfsorganisationen hat sich dazu mit der Dorfbevölkerung angesehen, wo die Hügel in der Region sind. Dort wurden kleine Steinmauern gebaut, um das Monsunwasser aufzufangen und in Auffangbecken zu konservieren. Das Monsunwasser kann so genutzt werden und fließt nicht einfach weg.

„Es geht nie nur um ein Projekt. Es geht nie nur um Bildung oder es geht nie nur um Wasservorräte. Sondern es geht immer darum, das ganze Dorf mitzunehmen.“

Cosima Gill

Damit Entwicklungen aber nachhaltig stattfinden, setzen die Organisationen darauf, möglichst alle im Dorf mitzunehmen. So gibt es immer auch eine Frauen- oder Mädchengruppe in den Dörfern. Und natürlich werden auch die Männer nicht außen vor gelassen. Ziel ist es, den Menschen zu zeigen, dass sie zusammen als Dorf Verantwortung übernehmen und gemeinsam auch die Verbesserung ihrer Situation erreichen können.

Die Frauengruppe hat sich zum Beispiel damit auseinandergesetzt, wie man Hilfen von der Regierung anfordern kann, zum Beispiel Gelder für einen Straßenbau. Im Prinzip politische Bildung, die darauf setzt den Menschen vor Ort zu erklären, wie sie das demokratische System in Indien für sich nutzen können.

„Bei den Projekten hast du einfach gesehen, wie die sich selbst organsiert haben. Und was auch sehr schön war: Zu sehen, dass Kastenwesen auf einmal keine Rolle mehr spielte, wenn sich alle in Gruppen gegenseitig unterstützen.“

Cosima Gill

Das Kastenwesen ist in Indien eigentlich verfassungswidrig. Trotzdem ist es weiterhin in vielen Lebensbereichen zu finden. Auch bei Onlineportalen zur Eheanbahnung ist es noch möglich, die Kastenzugehörigkeit anzugeben.

Feminismus in Indien

Eines der beeindruckendsten Erlebnisse hat Cosima Gill allerdings gleich zu Beginn ihrer Reise. Sie darf in einem Krankenhaus bei einer Geburt dabei sein. Genauer gesagt bei einem Kaiserschnitt. Es ist das erste Mal, dass sie bei einer Operation dabei ist. Die Gebärende ist während des Kaiserschnitts bei Bewusstsein, nur ihr Unterkörper ist in Narkose.

Weil das Kind nach der Geburt nicht direkt schreit, muss es zunächst noch abgesaugt werden. Bis zum erste Schrei vergehen 30 oder 40 Sekunden, sagt Cosima Gill. Als das Kind dann endlich schreit, ist sie erleichtert. Die Ärztin legt der Mutter das Kind mit den Worten: „Es ist ein Mädchen“ in die Arme und gratuliert. Ihre Reaktion ist aber alles andere als erwartet.

„Sie hatte einen wahnsinnig nüchternen Gesichtsausdruck. Das war nicht nur nüchtern, das war auch schon traurig. Und das tat mir einfach so weh, dieses Gesicht zu sehen, weil man sich das natürlich einfach anders vorstellt.“

Cosima Gill

Später erklärt die Ärztin, dass viele Frauen auch anfangen zu weinen, wenn sie erfahren, dass sie ein Mädchen geboren haben. In Indien ist es nicht erlaubt, das Geschlecht vor der Geburt zu verraten, weil zu viele weibliche Föten abgetrieben worden. Das hat dazu geführt, dass in Indien schlicht Frauen in der Gesellschaft fehlen. Man spricht vom Phänomen der „Missing Women„. Cosiam Gill nennt in der Folge die Zahl 63 Millionen, war sich aber nicht sicher. Deshalb hab ich das für den Artikel nochmal nachgesehen. Die Zahl stammt aus einem Guardian-Artikel von 2018. So ganz einig ist sich die Forschung nicht, was die Zahlen angeht, da die Berechnungen auf verschiedenen Grundlagen erfolgen können und auch gemacht wurden. Sicher ist aber, dass es einen Frauenmangel gibt und in den Jahren, als es noch nicht verboten war, das Geschlecht vor der Geburt zu erfahren, deutlich weniger Jungs als Mädchen geboren wurden.

Der Hintergrund: Bis heute so, dass das Mädchen nach der Ehe die Familie verlässt und in die Familie des Ehemannes übergeht. Außerdem stellen die Eltern der Braut traditionell die Mitgift. Das ist nicht nur eine finanzielle Belastung. Die Eltern verlieren auch ihre Altersvorsorge. Wird kein Junge geboren haben sie im Alter niemanden, der sie versorgen oder pflegen könnte. In den ländlichen Gegenden von Indien ist das noch ein sehr reales Problem, während sich in den Städten viele junge Frauen bereits emanzipieren und sich von den Traditionen mehr und mehr verabschieden.

Als Cosima Gill die junge Familie am Tag nach der Geburt nochmal besucht, lernt sie auch den Vater des Kindes kennen. Der, sagt sie, war total jung und nett und hat sich auch gefreut. Im Gegensatz zur Mutter war der nicht traurig. Und deswegen ist sich Cosima Gill im Nachhinein auch gar nicht mehr so sicher, was sie gesehen hat. Der Eindruck bleibt aber, dass die Frauen unter großem Druck stehen und sich einfach der Eindruck hält, dass Mädchen eher eine Belastung sind als ein Grund zur Freude.

Sport für Mädchen

Zum Ende ihrer Reise hat Cosima Gill dann noch ein Projekt besucht, dass versucht, Mädchen durch Sport zu empowern. Die Mitarbeitenden des Projekts überzeugt die Eltern der Mädchen, dass sie Cricket spielen dürfen. Auf dem Dorf immer noch eher als Männersportart angesehen. Jeden Tag nach der Schule geht es für die Mädchen zum Cricket-Training. Die Mädchen entwickeln dadurch einen richtigen Kampfgeist, sagt Cosima Gill und sie bekommt ganz leuchtende Augen, wenn sie von einer 15-jährigen Dorfbewohnerin erzählt, die große Pläne hat.

Die junge Dame auf dem Foto will nämlich Profi-Cricketspielerin werden. Ihr großes Ziel motiviert sie auch, in der Schule alles zu geben und sich zum Beispiel noch stärker im Englisch-Unterricht zu engagieren.

„Was für ein Selbstbewusstsein die dadurch entwickelt haben, ist einfach großartig! Die hatten ein Feuer, das war genial.“

Cosima Gill

Die Pläne der jungen Frau reichen aber weit über eine Karriere als Athletin hinaus. Sie möchte sich für Gleichberechtigung einsetzen. Dazu gehört für sie auch, dass nicht nur die Jungs ins Dorf geschickt werden, wenn es abends noch Besorgungen zu erledigen gibt. Ihre These: Wenn mehr Frauen das dürften und das toleriert würde, würde es auch weniger Vergewaltigungen geben. Einfach, weil es normaler wäre. Und weil die Frauen auch selbstbewusster wären.

Das Ziel des Projektes ist also nicht nur, Mädchen in ihren Plänen zu bestärken, sondern auch zu zeigen, dass sie Raum erobern und für sich einfordern können.

Cosima Gill hat bei ihrer Reise auch gelernt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Projekte überhaupt funktionieren, und wie verschieden die Vorstellungen von NGOs und Bevölkerung sein können von dem, was hilfreich ist. Das könnt ihr euch bei Interesse dann im Podcast anhören. Und wenn ihr weitere Fotos und auch die insta-Story von Cosima Gill sehen wollt, dann geht doch einfach mal auf ihren instagram-Account @cosima_gill.