Golineh Atai ist Journalistin und arbeitet für den WDR. Vielleicht kennt ihr sie aus Monitor. Oder aber aus ihrer Zeit als Russland-Korrespondentin. Denn von 2013 bis 2018 war sie für die ARD in Moskau und hat von dort berichtet. Ihr Leben und ihre Arbeit als Korrespondentin hatte sich Golineh Atai aber ganz anders vorgestellt. Sie wollte das Land bereisen, die Menschen zeigen, lange Reportagen machen, zum Beispiel für den Weltspiegel. Dann bricht der Krieg in der Ukraine aus – und Golineh Atai befindet sich als Journalistin im Kriegseinsatz.

Über ihre Erfahrungen hat sie ein Buch geschrieben, das im Juni 2019 im Rowohlt-Verlag erschienen ist: „Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist.“

In dieser Podcast-Episode spreche ich mit Golineh Atai darüber, warum sie dieses Buch geschrieben hat. Sie hat erlebt, wie dem eigentlichen Krieg ein Informationskrieg vorausgegangen ist und wie sich immer schwerer herausfinden ließ, was eigentlich wahr ist, und was wahr sein soll. Und für wen.

Ein Faktor, der auch jetzt während der Corona-Pandemie entscheidend ist. Wer gibt welche Zahlen und Informationen raus? Wie wichtig sind die Informationen, die sich Staaten untereinander vermitteln – und was, wenn das nicht passiert, wenn Informationen verschwiegen werden? Wer profitiert von der Krise – und wer versucht, sie politisch für sich zu nutzen?

HINWEIS: Das Interview haben wir bereits am 27. März 2020 geführt, so dass einige Ereignisse, über die wir sprechen, sich inzwischen weiterentwickelt haben. Ich weise im Podcast an entsprechender Stelle darauf hin.

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Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen beschäftigen Journalistinnen und Journalisten weltweit. Nicht überall besteht die Möglichkeit, frei zu berichten, geschweige denn an Informationen zu kommen. Das war natürlich auch schon vor der Pandemie so. Aber gerade jetzt ist es essentiell, denn die Ausbreitung von Sars-CoV-2 betrifft nicht nur einzelne Länder. Sie betrifft uns als Weltbevölkerung.

„Im Moment haben wir es mit einer Welt zu tun, die wir nicht so richtig kennen und von der wir nicht so richtig wissen, in welche Richtung sie sich weiterdrehen wird.“

Golineh Atai

Wie es ist, wenn Informationen nicht frei verfügbar sind und stattdessen mit Hilfe von staatlicher Propaganda gezielt Falschinformationen gestreut werden, das hat Golineh Atai während ihrer Zeit als Korrespondentin in Russland erlebt. Denn in dieser Zeit hat sie mitbekommen, wie sich das Land entscheidend verändert. Als Journalistin eine privilegierte Situation, sagt sie. Denn während sie berichtet, vollzieht sich in Russland eine Zeitenwende. Es werden neue Koordinaten in Innen- und Außenpolitik zementiert und ein Land erfindet sich neu. Einige Entwicklungen zeichneten sich zwar schon in den ersten zwei Amtszeiten von Vladimir Putin ab. Aber gerade in den letzten Jahren haben einschneidende Veränderungen stattgefunden – eine deutliche, definitive Abgrenzung zum Westen, sagt die Journalistin.

„Das hat mich extrem in meinen Grundfesten berührt, weil ich gesehen hab, dass sich die Welt verändert, indem sich dieses Land verändert.“

Golineh Atai

Das hat sich auch auf ihre Arbeit als Korrespondentin ausgewirkt. Denn eigentlich hatte sich Golineh Atai darauf eingestellt in einem Land zu arbeiten, mit einer unglaublich vielfältigen Schönheit, mit wahnsinnig vielfältigen Menschen, vielen Zeitzonen, vielen Sprachen, bizarren Begebenheiten, einem bizarren russischen Humor, den sie manchmal sehr mag, sagt sie. Zu ihrer Arbeit hätten lange Reportagen über Land und Leute gehört, wie wir sie oft im Weltspiegel sehen können. Nach einem Jahr war dann aber absehbar: Es wird zu einem Krieg kommen – und für die Korrespondentin bedeutet das, als Journalistin in einem Kriegseinsatz zu sein.

„Dieser Krieg hat durch einen Informationskrieg angefangen. Und der Faktor Information, der Faktor Medien, und welche Informationen die Menschen bekommen haben, ist ein ganz entscheidender Faktor gewesen.“

Golineh Atai

Allein wie die Annexion der Krim (https://de.wikipedia.org/wiki/Krimkrise) eingeleitet worden ist vom Kreml, lässt sich als Informationsautokratie bezeichnen, sagt Golineh Atai. Während bestimmte Informationen schlicht unterbunden wurden, wurden andere ganz bewusst in die Welt gesetzt, so dass sich die Menschen auf der Krim in einer Gefahrenlage wähnten, die so eigentlich nicht exisitiert hat, erklärt die Journalistin.

„Ich hatte oft in meinen Interviews das Gefühl, als wenn ich mit den Lautsprechern des russischen Staatsfernsehens Interviews führe und mir die Botschaften des Staatsfernsehens entgegenschallen.“

Golineh Atai

Dem Krieg ist also eine aktive Desinformation vorausgegangen. Und weil das eine so einschneidende Erfahrung für die Journalistin gewesen ist, hat sie über ihre Erlebnisse und Reflektionen aus dieser Zeit ein Buch geschrieben. Denn, sagt sie, es sei auch sehr viel an Aufklärung darüber verloren gegangen in den vergangenen Jahren.

Aber wie geht man als Journalistin vor, wenn die verfügbaren Informationen vom Staat kontrolliert werden? Wie gelingt es, Informationen einzuordnen, wenn dahinter eine Agenda steckt, ein System, das bewusst falsche Fährten legt? Wie unterscheidet man zwischen validen Informationen und staatlicher Propaganda? Genau das hat sich auch Golineh Atai gefragt. Denn sie war mit Antworten konfrontiert, die ihre eigene Wahrnehmung in Frage gestellt haben. Was wiederum dazu geführt hat, dass auch sie ihre Wahrnehmung in Frage gestellt hat. Das gehört im Journalismus im Prinzip immer dazu, die eigenen Erfahrungen und Positionen immer wieder auch selbst zu hinterfragen. Ein Prozedere, das zu Unsicherheiten führt – und genau das ist auch das Ziel der „Informationskrieger“.

Es ist wie ein Spiel: Es werden gezielt selektive Informationen nach außen getragen. Die müssen nicht falsch sein, aber sie sind selten vollständig. Im Prinzip bekommt das Gegenüber nur die Informationen, die es glauben soll, nicht aber die, die es wissen müsste, um sich ein umfassendes Bild von der Lage zu machen. Zusätzlich werden aber auch bewusst falsche Informationen lanciert. Im Falle des Krieges mit der Ukraine zum Beispiel Berichte über Gräueltaten, die Ukrainer an anderen Ukrainern verübt haben sollen, sagt Golineh Atai.

Es werden aber auch ganz gezielt ausländische Medienvertreter:innen unter Druck gesetzt. Für Golineh Atai hieß das zum Beispiel, dass nach einem Bericht über die Menschenrechtssituation in Deutschland, viele kritische Zuschriften in der Redaktion landen, die darauf verweisen, dass Deutschland ja selbst ein Problem mit Menschenrechtsverstößen habe und dass man da lieber mal im eigenen Land darüber berichten solle. Das habe eine neue Qualität und hat es vor einigen Jahren, als sie zum Beispiel im ARD Studio in Kairo arbeitete, so nicht gegeben.

„Es ist jetzt sehr einfach geworden, die Dinge zu relativieren und Dinge und Missstände gleichzusetzen, die einfach nicht gleichgesetzt werden dürfen.“

Golineh Atai

Wer genau die Menschen waren, die sich mit Mails und Briefen an die Redaktion gewendet haben, weiß die Journalistin nicht. Aber es gab darunter eine gut organisierte Gruppe, die immer wieder Programmbeschwerden an die Redaktion geschickt hat. Das hat durchaus dazu geführt, dass sich Zweifel und Skepsis an der eigenen Berichterstattung breit gemacht haben. Aber auch dagegen gibt es ein Rezept: Eine sehr lange, sehr intensive Beschäftigung mit praktischer russischer Politik. Sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwartsgeschichte.

Je intensiver die Beschäftigung mit den politischen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit, desto besser lässt sich nachvollziehen, wie der Kreml funktioniert. Wie Entscheidungen getroffen und kommuniziert werden.

„Der Kreml ist eigentlich eine Blackbox. Es ist unglaublich schwierig, die Zeichen, die vom Kreml kommen, zu interpretieren für uns aus dem Westen. Abhilfe kann man nur dadurch schaffen, dass man lang und systematisch die Politik beobachtet, analysiert, einordnet, historische Vergleiche feststellt.“

Golineh Atai

Wenn das gelingt, bekommt man eine neue Sicherheit für die Beurteilung der Situation. Und das wiederum schärft das politische Selbstverständnis. Für Golineh Atai eine echte Herausforderung, der sie so begegnet ist, dass sie sich mit der Geschichte Russlands – vor allem der letzten 30 bis 40 Jahre – tiefgehender beschäftigt hat. Und das Ergebnis dieser Recherche hat sie aufgeschrieben, damit bestimmte Narrative und Muster, die immer wieder auftauchen, eindeutig zugeordnet werden zu können. Damit unterschieden werden kann zwischen Potemkinschen Dörfern, also der bewussten Täuschung über bestimmte Tatsachen, und realer Politik dahinter. Im Prinzip hat sie mit „Die Wahrheit ist der Fein. Warum Russland so anders ist“ eine kleine Handlungsanleitung geschrieben, um russische Politik zu verstehen, sagt die Journalistin.

Falschmeldungen vor Ort überprüfen

Um herauszufinden, was eigentlich stimmt in Bezug auf den Konflikt zwischen Russland und der Ost-Ukraine, war es notwendig, vor Ort zu sein. In den ersten drei bis vier Jahren des Konflikts ging das noch ganz gut, dann wurde es für viele westliche Medienvertreter:innen schwieriger, in das Konfliktgebiet zu gelangen und ungehindert dort zu arbeiten. Es war sicht- udn erfahrbar – in Interviews, Zeitzeugenberichten und Aktivitäten vor Ort, dass das Gebiet fest unter Moskauer Kontrolle war, sagt Golineh Atai. Seit 2014 ist die Region ein rechtsfreier Raum. Bürgerrechtsaktivisten und Journalisten werden verhaftet und eingesperrt, ohne Gerichtsverfahren über Jahre in Kellern festgehalten.

Auch der Krieg in der Ostukraine – seine Hintermänner, seine Ursachen – hat deutlich gemacht: Es gibt sehr, sehr guten Journalismus in Russland, er findet nur zum einen nicht in den Staatsmedien statt und er ist zum anderen sehr gefährlich für diejenigen, die den Job machen.

„Ich bewundere diese Fähigkeit in einem derart gefährlichen Umfeld diese Risiken einzugehen. Es gibt nach wie vor sehr viele, sehr gute russische Investigativ-Journalisten, die das tun. Und die dafür wirklich ganz erhebliche Risiken eingehen.“

Golineh Atai

Ein aktuelles Beispiel für solche Recherchen: Russische Journalisten haben recht schnell herausgefunden, dass verwundete russische Söldner, die in einem „halbstaatlichen“ Auftrag in Syrien im Einsatz waren, in Krankenhäusern in Moskau lagen. Die Journalist:innen haben Kontakt zu den Familien und Ehefrauen gesucht und haben darüber berichtet. Sie haben auch Gräber von russischen Soldaten auf Friedhöfen gefunden, die im Einsatz in der Ostukraine ums Leben gekommen sind.

Dem Kreml gefällt diese Art der Berichterstattung gar nicht, weshalb sich der russische Verteidigungsminister, Sergei Kuschugetowitsch Schoigu, zu Wort gemeldet hat und von unerlaubten Tätigkeiten der Journalist:innen gesprochen hat, die über diese Fälle berichtet haben, erklärt Golineh Atai. 2019 hat Russland Gesetze verabschiedet, die es den Behörden ermöglichen, einzelne Journalisten und Blogger als „ausländische Agenten“ zu kennzeichnen und es zu einer Straftat zu machen, „gefäschte Nachrichten“ online zu verbreiten. Das, sagt sie, deute darauf hin, dass Investigativ-Journalismus der Macht schon lange ein Dorn im Auge ist.

„Das sieht man eigentlich bei jeder Krise, mit der solche großen Autokratien zu tun haben, dass es zunächst erst mal eine Art Verweigerungshaltung gibt, ein Leugnen, ein Abstreiten, ein Verneinen. Und dass dann im Laufe von drei oder vier Wochen, die ganze Wahrheit oder zumindest die halbe Wahrheit zu Tage tritt.“

Golineh Atai

Russland und die Corona-Pandemie

Genau dieses Vorgehen – erst das Leugnen und Verschweigen, dann das schrittweise Zugeben von Tatbeständen – erleben wir jetzt auch im Falle der Corona-Pandemie. Nicht nur in Russland. Und natürlich hat es überall einen Lernprozess gegeben, was die Maßnahmen angeht. Die Frage ist allerdings, wie sehr diese Lernkurve eben staatlich gesteuert ist und wer aus welchen Gründen welche Informationen weitergibt – oder auch für sich behält.

Auch in Russland konnte zunächst eine Art Verweigerungshaltung beobachtet werden, sagt Golineh Atai, und zwar bis in höchste staatliche Stellen. Das lässt sich ganz gut ablesen am Verhalten der russischen Delegation im UN-Sicherheitsrat, die bis zuletzt gesagt hat, dass es keine Veranlassung gebe, auf ein physisches Treffen zu verzichten, um Resolutionen zu verfassen oder Abstimmungen zu leiten. Und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem bereits viele Länder ihre Diplomat:innen ins Homeoffice geschickt hatten.

„Erst als Vladimir Putin sich dann in einen Schutzanzug geworfen hat – ganz demonstrativ vor aller Welt – erst dann hat es ein Umdenken in der russischen UN-Delegation gegeben.“

Golineh Atai

Was sich daran auch zeigt: Die Lage wird so lange geleugnet, bis der Präsident ein Zeichen gibt und die Lage so inszenieren kann, dass er sich zum einen als ganzer Mann zeigen kann, zum anderen aber eben auch als jemand, der die Lage unter Kontrolle hat. Staatsoberhäupter in Schutzanzügen waren ansonsten weltweit eher weniger zu beobachten.

Bis zum 27. März 2020 als wir dieses Gespräch aufgenommen haben, waren vor allem im Stadtgebiet von Moskau Fälle von Covid-19 berichtet worden. Bis dahin hatte in Russland, so zumindest die Berichte von Freunden und Bekannten der Journalistin, so etwas wie Social Distancing nicht stattgefunden. Wir wissen allerdings auch, dass die Pandemie sich mit einiger Verzögerung ausbreitet, weshalb die Maßnahmen natürlich nicht in allen Ländern synchron laufen. Trotzdem ist inzwischen durch die dramatische Lage in Italien und Spanien durchaus absehbar, welche Konsequenzen es haben kann, wenn nicht rechtzeitig reagiert wird. Da gibt es also durchaus einen Informationsvorsprung gegenüber dem Beginn der Pandemie Anfang des Jahres.

Zum Zeitpunkt des Gesprächs hatte Präsident Putin auch schon ökonomische Maßnahmen verkündet, wie Steuererleichterungen und ein Hilfspaket für Unternehmer. Aber so richtig konkret geworden ist er dabei nicht. Und Golineh Atai kann bislang auch keine richtige Strategie ausmachen. Das erste Signal, dass es einwöchige Ferien geben soll, haben viele Russ:innen so gedeutet, dass das eine gute Gelegenheit wäre für einen Kurztrip ans Schwarze Meer. So hatten die Hotels in Sotschi vorübergehend einen Anstieg an Buchungen zu verzeichnen.

Eine Woche nach diesem Gespräch, am 02. April 2020, hat wohl auch Russland erkannt, wie ernst die Lage ist. Bis einschließlich 30. April 2020 sollen die russischen Bürger:innen möglichst zu Hause bleiben. Auf Reklamewänden laufen Werbefilme, wie man sich am besten die Hände wäscht und dass die Menschen Abstand voneinander halten sollen.

Braindrain in Russland

Es gibt sehr viele, sehr gute Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Russland. Viele Akademiker:innen sind allerdings in den vergangenen Jahren vermehrt ins Ausland gegangen. Golineh Atai sagt, es habe ein richtiger Exodus stattgefunden.

„Seit 2014 hat es einen richtigen Exodus von Akademikern gegeben.“

Golineh Atai

Das Problem: Alle Information und Aurklärung wird dem Stabilitätsmantra untergeordnet, mit dem die Regierung verhindern will, dass irgendeine Art von Panik entsteht. Wie viele Fälle es genau in Russland gibt, ist nicht wirklich klar und eindeutige Fallzahlen wird es wohl nie geben. Aktuell sind es offiziell nur wenige Fälle von Covid-19-Erkrankten. Gleichzeitig war allerdings in den vergangenen Wochen, als noch über Corona in Russland geschwiegen wurde, die Zahl von Menschen mit Lungenentzündungen und Keuchhusten im Moskauer Stadtgebiet gestiegen. Langjährige Beobachter stellen sich angesichts dieser Informationen durchaus Fragen, wie das zueinander passt.

Aber nicht nur in Russland ist die Informationspolitik nicht ganz transparent. Denn im Zusammenhang mit Corona will auf keinen Fall jemand einen Fehler gemacht haben. Was dazu führt, dass Informationen, obwohl sie vorhanden sind, nicht untereinander ausgetauscht werden. So wurden die Urlauber in Ischgl einfach zurück in ihre Heimatländer geschickt, ohne dass sie darüber informiert wurden, dass es vor Ort Covid-19-Erkrankungen gab. Erst nachdem in Österreich umfangreiche Maßnahmen zur Verhinderung einer Ausbreitung getroffen wurden, sind auch diese Informationen bekannt geworden. Auch das lässt bei einigen Beobachter:innen durchaus Fragezeichen zurück.

Eine weitere Auswirkung der Corona-Pandemie: In vielen Staaten ist die Versuchung groß, die Freiheitsrechte weiter oder auch dauerhaft einzuschränken und sich Zugang zu persönlichen Daten der Bürgerinnen und Bürger zu verschaffen. Während in Demokratien darüber immerhin Debatten entstehen und diskutiert wird, inwieweit der Staat da zum Schutz der Bevölkerung handelt oder mit den Maßnahmen über das Ziel hinaus schießt, wird in autokratischen Staaten einfach umgesetzt, ohne, dass es vorher eine Debatte über die Maßnahmen und entsprechende gesetzliche Grundlagen gibt.

Gerade sind in Russland umfangreiche Maßnahmen zur Gesichtserkennung eingeleitet worden, die denen in China ähneln. Laut heise.de legt Russland zudem eine Foto-Datenbank mit Corona-Infizierten an.

„Der Staat versucht jetzt natürlich auch, die Pandemie dazu zu nutzen, um sich zu rechtfertigen, dass die Sache mit der Gesichtserkennung doch noch schneller ablaufen muss.“

Golineh Atai

Auf Seiten der Bevölkerung ist erschreckend wenig Bewusstsein da, dass es hier um ein datenschutzrelevantes Thema geht, sagt Golineh Atai. Auch in den fünf Jahren, in denen die Journalistin als Korrespondentin in Russland gearbeitet hat, hat sie vergeblich nach Aktivist:innen gesucht, die sich für das Thema Datenschutz eingesetzt haben. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet Datenschutzaktivist Edward Snowden in Russland untergetaucht ist.


Dass es so wenig Interesse für das Thema Datenschutz gibt, dahinter vermutet Golineh Atai eine Art von Staatsgläubigkeit oder Etatismus. Das heißt, dem Staat wird eine Form von Allmacht zugestanden. Nicht selten hört man auch von „Väterchen Staat“, also im Prinzip der Staat als Übervater, eine sehr patriarchale Einstellung auch, sagt Golineh Atai.

Corona in Iran

Weil Golineh Atai gebürtig aus Iran stammt und dort auch noch Verwandtschaft hat, wollte ich unbedingt mit ihr auch noch darüber sprechen, wie dort die aktuelle Lage ist – auch im Angesicht der Corona-Pandemie. Und die Lage ist nicht gut, sagt die Journalistin. Sie verfolgt das Geschehen recht intensiv und macht sich Sorgen darüber, wie sich die Lage dort entwickeln wird. Es gibt Berichte darüber, dass sich immer mehr Ärzte und medizinisches Personal anstecken und auch junge Ärzte an den Folgen von Covid-19 sterben. Nach Berechnungen einer Teheraner Universität könnte es bis zu 3,5 Millionen Tote in Iran geben.

Auch hier scheint die Regierung keinen wirklichen Plan zu haben, wie sie die Pandemie stoppen oder zumindest deren Verlauf beeinflussen kann. In anderen Krisen in der Vergangenheit, zum Beispiel der HIV-Krise oder der Drogenkrise, hat sich die Regierung eher durch Nichthandeln ausgezeichnet, sagt die Journalistin.

„Wenn ich mit meiner Verwandtschaft vor Ort spreche, dann erlebe ich die in Selbstquarantäne. Es ist keine Quarantäne, die von staatlichen Stellen durchgezogen wird. Sie wird zwar empfohlen, aber es ist bei weitem nicht so rigide wie hier in Deutschland.“

Golineh Atai

Erst vor wenigen Wochen, zum Frühjahrsanfang in der Nacht auf den 21. März 2020, wurde das iranische Neujahrsfest Nowruz gefeiert. Ein Fest, bei dem traditionell die ganze Familie zusammenkommt. Nicht in allen Familien fiel das Fest aus.

Wer sich an die Quarantäne-Empfehlungen hält, das sind vor allem die Menschen im reichen Norden Teherans. Dort sind die Straßen inzwischen weitgehend leer. Aber im ärmeren Süden, sagt Golineh Atai, ist nicht viel von Social Distancing zu sehen. Dort gehen die Menschen sehr nah und sehr vertraut miteinander um.

Das iranische Neujahrsfest ist aber nicht das einzige Schlüsselevent, bei dem sich das Virus massiv ausgebreitet haben könnte. Golineh Atai befürchtet, dass es bereits vorher solche Schlüsselevents gegeben haben könnte. Denn bereits im Februar gab es die ersten Covid-19-Tote in der Stadt Ghom südlich von Teheran. Trotz der Warnungen aus der Zivilbevölkerung hat die Regierung aber zum einen das Gedenken an das Revolutionsjubiläum gefeiert und zum anderen auch die Parlamentswahlen stattfinden lassen.

„Der ökonomische Druck ist da auch ausschlaggebend. Die Regierung kann es sich aufgrund der Sanktionen nicht wirklich systematisch erlauben, eine Quarantäne wie im chinesischen Stil umzusetzen.“

Golineh Atai

Für die Menschen in Iran bedeutet das: Entweder sie bleiben zu Hause und leiden Hunger, oder sie gehen weiter zur Arbeit und infizieren sich mit Sars-CoV-2. Damit die Regierung Maßnahmen durchsetzen könnte, müsste sie die politische und ökonomische Ordnung im Land komplett umkrempeln. Das wird sie aber nicht tun. Und erst recht nicht der geistliche Führer, der die ganze Macht im Land hat, erklärt Golineh Atai, ihm unterstehen Revolutionsgarden und Armee.

Das Problematische daran: Nach der Pandemie könnte durch die vielen Todesopfer und die zusammenbrechende Wirtschaft eine humanitäre Krise folgen. Beobachter rätseln bereits, ob die Corona-Krise auch große geopolitische Verschiebungen im Nahen Osten zur Folge haben könnte.

In ihrem iranischen Umfeld hört Golineh Atai vor allem eine Art Gleichgültigkeit und Resignation heraus. Die Menschen haben bereits so viele Krisen erlebt, Naturkatastrophen wie Dürren und Fluten, den Krieg zwischen Iran und Irak, der acht Jahre gedauert hat, die Niederschlagung der Bürgerproteste, zahlreiche Menschen sind im Gefängnis – wie schlimm kann es da noch kommen? Neben der Resignation staut sich bei vielen aber auch die Wut auf.

„Es ist eine wahnsinnig angespannte Situation, die sich wirklich jederzeit in Unruhen kristallisieren kann. Ich muss sagen, das erfüllt mich mit ziemlicher Sorge.“

Golineh Atai

Was überall auf der Welt so langsam deutlich wird: In Sachen Corona-Pandemie stehen wir gerade erst am Anfang. Es wird mit Hochdruck nach Medikamenten geforscht, die das Virus stoppen können, bevor es die Lungen befällt. Gleichzeitig wird genauso intensiv nach einem Impfstoff gesucht, denn nur so kann die Pandemie wirksam gestoppt werden. Optimistische Schätzungen rechnen damit im Frühjahr 2021. Und noch wissen wir nicht, wie sich die Pandemie auf die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent auswirken wird.

Mit anderen Worten: Das Thema wird uns noch eine ganze Weile beschäftigen. Und es wird eine große Anstrengung aller Staaten der Welt brauchen, um die Pandemie einzudämmen. Abschottung wird nichts bringen, denn Viren sind nicht besonders bekannt dafür, sich bei ihrer Ausbreitung an Staatsgrenzen zu orientieren.