Cosima Gill ist freie Journalistin und arbeitet für den WDR, den RBB und die Deutsche Welle. Ihr Herzensland ist Indien. Wir haben darüber gesprochen, wie es ist, dort zu leben, zu arbeiten – und zu reisen.

12. Januar 2019 – in Berlin findet das Jahresfinale zum Realsatire Reporterslam statt. Mit dabei: Cosima Gill. Die freie Journalistin slamt über eine der Kernweisheiten aus ihrer Arbeit in Indien. No problem = big problem! Und ich denke gleich: Wow. Darüber müssen wir unbedingt sprechen. Gut, dass ich einen Podcast habe, in dem genau das möglich ist. Und so sitzt Cosima Gill zwei Wochen später in meinem Kölner Wohnzimmer.

Eigentlich müsste ich Cosima Gill längst kennen. Schließlich arbeiten wir beide beim WDR – sie für die Aktuelle Stunde in Düsseldorf, ich im Kölner Funkhaus. Aber manchmal muss man eben erst nach Berlin fahren, um die Kolleg:innen kennenzulernen. Warum mich ausgerechnet Indien so gereizt hat für diesen Podcast? Zum einen, weil ich 2006 selber dort war und mich das Land extrem fasziniert hat. Zum anderen, weil wir sehr wenig über dieses riesige Land hören in dem es neben riesigen Fortschritten und rasend schneller Technisierung auch krasse Probleme gibt.

Cosima Gill spricht fünf Sprachen. Sie hat in Genf und London studiert und spricht neben Deutsch auch noch fließend Englisch und Französisch. Zusätzlich spricht sie Spanisch und inzwischen auch Hindi. Das hat sie zusammen mit anderen Indern während ihres Masterstudiums gelernt. Denn nur weil jemand aus Indien kommt, heißt das eben nicht, dass er oder sie auch Hindi spricht. Denn Hindi ist nur eine von weit über 100 Sprachen, die auf dem Subkontinent gesprochen werden. Hindi ist neben Englisch Amtssprache, und das ist auch da hilfreich, wo Hindi von der Bevölkerung nicht als Hauptsprache gesprochen wird.

„Ich würde sagen, mich kann kein Rikscha-Fahrer mehr abziehen. Also die Konversation, die man im Alltag braucht, die hab ich drauf!“

Cosima Gill über ihre Hindi-Kenntniss

Cosima Gill hat auch familiäre Verbindungen nach Indien, denn ihr Großvater kommt aus Nordindien. Als er in den 50er Jahren nach England auswandert, um dort zu studieren, lernt er Cosimas Großmutter kennen – eine junge Deutsche, die als Au Pair in England gearbeitet hat. Niedergelassen hat sich das Paar dann schließlich in Bonn. Aber der Kontakt zur indischen Verwandtschaft blieb. Und deshalb reisen Cosima und ihre Familie so Feierlichkeiten immer wieder nach Indien. Das ist natürlich nicht nur eine Gelegenheit für Familienbesuche, sondern auch für ein paar Rundreisen. Und so hat auch Cosima mit ihrer Familie die „Golden Triangle Tour“ gemacht mit den Stationen New Delhi, Agra, Jaipur. Eine ziemlich klassische Touristenroute.

2012 macht Cosima Gill dann mit einer Freundin eine Backpacking-Tour und reist mit dem Zug durch Indien. Auch Kashmir gehört zur Reiseroute. Eine Region, in der der Konflikt zwischen Indien und Pakistan sehr präsent ist.

„Das war das erste Mal, dass ich in einem Gebiet war, wo man merkt: Hier kann ein Konflikt jederzeit wieder ausbrechen.“

Cosima Gill

Aktuell würde Cosima Gill Touristen nicht empfehlen, dorthin zu reisen. Auch ihre Familie in Indien ist da sehr vorsichtig. Dazu muss man wissen, sagt Cosima, dass Kashmir für viele Inder ein Sehnsuchtsort ist. Viele Bollywood-Filme werden in der Region gedreht. Der Alltag ist allerdings weniger Bollywood. In Srinagar gehören bewaffnete Soldaten und Polizisten überall zum Stadtbild.

Mit deutschem Mindest in Indien

Obwohl Cosima Gill schon häufiger in Indien war und dort auch gereist ist: Dort arbeiten ist noch mal eine ganz andere Herausforderung. Auch dann, wenn man im Prinzip schon weiß, dass die Dinge in Indien ein wenig anders laufen als hier.

„Wenn man Indien geht, um da zu arbeiten, und vielleicht mit einem deutschen Mindset da hingeht, dann denkt man im ersten Moment, das muss alles so zackig gehen. Davon muss man sich einfach freimachen.“

Cosima Gill

Das war auch für Cosima Gill die größte Herausforderung. Denn Dinge funktionieren häufig einfach nicht – auch weil höhere Gewalt im Spiel ist. So bricht in der Monsunzeit bei starken Regenfällen gerne mal das Handynetz zusammen. Und auch das Internet funktioniert dann einfach nicht mehr. Der gerufene Techniker kommt dann zwar, steckt aber häufig einfach im Verkehr fest. Und wenn dann die Deadline zärtlich auf die Schulter tippt, ist cool bleiben gar nicht mehr so einfach.

„Ich hab mir dann angewöhnt, einfach immer für mich zu sagen: Shanti. Das heißt Friede und da hab ich einfach immer versucht mir zu sagen, jetzt die innere Mitte nicht verlieren und einfach cool bleiben – klappt schon alles.“

Cosima Gil

Und am Ende hat es dann auch meistens geklappt. Es dauert halt einfach länger, und es ist mehr Einsatz erforderlich. Denn selbst bei vereinbarten Interviewterminen sind mehrere Telefonate notwendig, um sicherzustellen, dass zum vereinbarten Zeitpunkt auch wirklich ein Gesprächspartner vor Ort ist. Also – vereinbarter Zeitpunkt plus x.

„Das ist Indian Time. Eine halbe Stunde später ist normal!“

Cosima Gil

Wirklich wichtig ist es, ein gutes Netzwerk vor Ort zu haben mit Menschen, die schon länger im Land leben und arbeiten. Da gibt es viel Austausch, viele Anregungen und auch viel Unterstützung. Noch wichtiger ist dann aber die vor Ort-Recherche. Klar, die ist auch in Deutschland wichtig, aber in Indien hat das nochmal eine andere Qualität. Auch, weil es viel schwieriger ist, per Telefon an entsprechende Informationen zu kommen.

No problem means big problem

Einer der alarmierendsten Sätze in Indien ist „No Problem“ – dazu hat Cosima Gill auch ihre Geschichte beim Realsatire Reporter Slam erzählt. Denn „No problem“ heißt in der Regel das genaue Gegenteil. Im Falle von Recherchen häufig: OK, hier ist Ende. An die Informationen komme ich nicht ran.

„No problem, no problem heißt halt nicht „Kein Problem“. Gar nicht. Sonder: Wird nix in den meisten Fällen.“

Cosima Gill

Das heißt dann für Journalist:innen tatsächlich auch, dass selbst eine sehr spannende Geschichte einfach nicht stattfinden kann, weil die entsprechenden Informationen nicht verfügbar sind. Auch dann, wenn man da sehr hartnäckig dran bleibt und immer wieder nachfragt. Und – das ist für Journalist:innen wirklich eine harte Nuss – das auch noch ohne wirkliche Begründung. Denn es gibt in Indien kein Nein. Stattdessen immer wieder neue Begründungen, warum es jetzt gerade nicht klappt.

Auch wenn Cosima Gill, wie sie sagt, mit einem deutschen Mindset nach Indien fährt, dass sie Wurzeln in Indien hat, merkt sie immer wieder. Zum Beispiel, wenn sie ihre Familie besucht. Dann ist die Begrüßung so herzlich, dass sie einfach das Gefühl hat, sie kommt nach Hause. Obwohl dort ganz viel so anders ist als im Rheinland, wo Cosima Gill geboren wurden und aufgewachsen ist.

„Nach Indien fahren ist für mich auch immer ein Stückchen zuhause, aber auch immer ne interessante Kombi. Denn ganz häufig, also auch jeden Tag denke ich: Boah! Sowas würde es in Deutschland nie geben! Wie krass!“

Cosima Gill

Wie zum Beispiel die überall wüst verlaufenden und verknoteten Stromkabel, die eine Sehenswürdigkeit für sich sind und nach allen physikalischen Gesetzen so nicht funktionieren dürften. Die aber mit viel handwerklichem Geschick instand gehalten werden. Und gerade in Alt Delhi oder an Orten wie Varanasi im Süden Indiens sind sie der einzige Hinweis darauf, dass man sich aktuell im Jahr 2019 befindet – und nicht zum Beispiel im 15. Jahrhundert. Denn in diesen Städten ist die Anmutung teilweise noch ziemlich mittelalterlich.

Und eigentlich beschreibt diese Szene ganz gut, in welchem Spagat sich das Land und die indische Gesellschaft gerade befinden. Denn wo zum Beispiel in Neu Delhi auf der einen Seite riesige Neubauten und Bürogebäude errichtet werden, digitale Start-ups aus dem Boden sprießen und der technische Fortschritt sich fast selbst überholt, hausen auf der anderen Seite Menschen auf dem Mittelstreifen des Highways, der vom Flughafen nach Neu Delhi führt, gibt es ein kaum noch einzudämmendes Müllproblem und eine Luft- und Wasserverschmutzung, die für alle Menschen, die dort Leben gesundheitsgefährdend ist.

Zu einem ähnlichen Phänomen gehören arrangierte Ehen, die immer noch in einem Großteil der Bevölkerung ein riesen Thema sind, sagt Cosima Gill. Auch wenn sich viele inzwischen aussuchen können, ob sie den Partner oder die Partnerin selber wählen wollen oder das ihren Eltern überlassen. Aber Datingseiten für Eltern, die dort Partner:innen für ihre Kinder suchen sind in Indien keine Seltenheit. Und Söhne und Töchter, die die Partnersuche ganz freiwillig den Eltern überlassen auch nicht.

„Es kommt halt wahnsinnig darauf an, wo man geboren wird.“

Cosima Gill

Wie das eigene Leben verläuft, ob man in einer der schönen Neubauten wohnt oder auf dem Mittelstreifen des Highways, kommt immer noch häufig darauf an, in welche Familie man hineingeboren wird. Für Kinder aus wohlhabenderen Familien ist es häufig völlig normal, im Ausland zu studieren. Viele Familien schicken ihre Kinder nach Kanada oder England für ein Studium, auch wenn es inzwischen auch in Indien ganz gute Universitäten gibt, sagt Cosima.

Obwohl die indische Verfassung seit 1950 vorsieht, dass keine Benachteiligung aufgrund der Kastenzugehörigkeit stattfinden darf, ist das Kastendenken in der Gesellschaft immer noch sehr präsent ist. Und hat damit großen Einfluss darauf, wie das Leben vieler Menschen verläuft. Auch Programme, die explizit Kinder ärmerer Familien Zugang zu Bildung ermöglichen sollen, funktionieren nur bedingt, sagt Cosima Gill. Diskriminierung findet trotzdem statt, zum Beispiel auf dem Schulhof, weil Kinder aus unteren Kasten ihr Pausenbrot nicht neben den besser gestellten Kindern essen sollen.

Frühjahr 2019 – Wahlen in Indien

Interessant ist auch ein Blick auf Indiens Politik. Denn im Frühjahr stehen Wahlen an. Und der aktuelle Präsident, Narendra Modi, von der Bharatiya Janata Party (BJP) hat plötzlich Konkurrenz bekommen. In Form von Rahul Ghandi von der Congress Partei. Die hat drei wichtige Wahlen gewonnen. Und jetzt hat Rahul Ghandi noch seine Schwester in die Partei geholt, die in Indien sehr beliebt ist.

„Rahul Ghandi hat das Programm jetzt erst mal gegen Modi ausgerichtet. Er versucht viele Probleme der Bauern zu lösen in letzter Zeit. Das ist auch wichtig.“

Cosima Gill

Narendra Modi hat vor allem eine Politik gemacht, die vielen Hindus zugute kam, erklärt Cosima Gill. Rahul Ghandi versucht deshalb, größere Teile der Bevölkerung anzusprechen und auch die Muslime mit in seine Politik einzubeziehen.

Metoo in Indien

Zur politischen Debatte in Indien gehören inzwischen auch immer wieder die Einforderung von Frauenrechten. Nicht erst seit der Metoo-Bewegung, denn die brutale Gruppenvergewaltigung in Delhi im Jahr 2012 hatte bereits dafür gesorgt, dass Frauen lauter und sichtbarer werden. Trotzdem gehören Vergewaltigungen immer noch zum traurigen Alltag vieler Frauen in Indien. Und Neu Delhi hat längst den Beinamen „Rape Capital of India“ verpasst bekommen.

Das ist die eine Seite. Und ja, es gibt Ecken in Neu Delhi, da ist es nicht unbedingt ratsam alleine als Frau hinzugehen. Die gibt es aber in deutschen Großstädten natürlich auch. Trotz allem hatte Cosima Gill weniger Sicherheitsbedenken als zum Beispiel ihre Familie in Indien. Was heißt: Ja, alleine bewegen geht natürlich schon, aber es müssen halt ein paar Dinge beachtet werden. Zum Beispiel, dass nur bestimmte Taxi-Unternehmen beauftragt werden.

Aber auch die Politik hat reagiert, um mehr Sicherheit für Frauen zu schaffen. So gibt es bei der Metro in Neu Delhi inzwischen Frauenabteile. Oder es gibt die Möglichkeit, explizit eine weibliche Taxifahrerin über eine App zu buchen. Eine Option, die wir aber auch in Deutschland zum Beispiel sehr schätzen und einige Frauen gerne nutzen. Der größte Unterschied ist, dass vieles eben nicht spontan geht. Also mal eben zum Bahnhof laufen und den Zug Richtung Taj Mahal nehmen ist einfach nicht empfehlenswert, sagt Cosima Gill. Um sicher reisen zu können, braucht es in Indien einfach ein bisschen mehr Planung.

Was ihr außerdem noch in dieser Folge hört: Die Sache mit dem Delhi Belly, warum in Neu Delhi gerade mehr Kühe auf der Straße sind als sonst, welche Probleme es aktuell in Bezug auf religiöse Vielfalt dort gibt, welche Rolle verschiedene Religionen in Cosima Gills Leben spielt, was es mit der krassen Luftverschmutzung in Neu Delhi auf sich hat und warum es kaum eine Lösung für das Müllproblem gibt.

Links zum Podcast:

Emanzipation im Hindu-Tempel