Dr. Anja Peters ist Kinderkrankenschwester, studierte Pflegewissenschaftlerin und hat sich in ihrer Diplomarbeit intensiv mit dem Thema historische Hebammenforschung auseinandergesetzt. Dass sie heute einen Doktortitel trägt, war eher Zufall, sagt sie. Denn während ihrer Recherchen für die Diplomarbeit begegnet sie Nanna Conti. Sagt euch nichts? Keine Sorge, damit seid ihr nicht allein. Denn obwohl Nanna Conti während des Nationalsozialismus Reichshebammenführerin war, ist über ihr Leben und Wirken bislang wenig bekannt. Diese Lücke hat Dr. Anja Peters mit ihrer Forschungsarbeit geschlossen.

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Entdeckt habe ich Dr. Anja Peters auf dem Histocamp in Berlin. Genauer gesagt: Auf dem Weg dahin. Bei Twitter. Dort ist sie unter dem Namen @thesismum bekannt und twittert zu Themen rund um Pflegewissenschaften und historische Pflegeforschung, zum Beispiel unter dem Hasthag #histnursing. Wer die Live-Folge vom Histocamp gehört hat, kennt sie auch schon ein bisschen. Ich war danach so angefixt von dem Thema, dass ich einfach mehr wissen wollte. Über Pflegeforschung, Organisation von Pflege in Deutschland im historischen Kontext und über Nanna Conti natürlich!

In ihrer Diplomarbeit hat Dr. Anja Peters – damals noch ohne Doktortitel – über die Kurse für Hebammen an der Führerschule der deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse geschrieben. Der Vorschlag für das Diplomarbeitsthema kam vom damaligen Vorsitzenden des Gedenkstätten-Vereins in Alt Rehse. Das Erstaunliche: Obwohl Alt Rehse nur sechs Kilometer von Neubrandenburg entfernt liegt, dem Ort an dem Dr. Anja Peters auch lebt, hatte sie noch nie davon gehört. Dabei ist das schon ein sehr spezieller Ort. Denn Alt Rehse ist ein Dorf am westlichen Ufer des Tollensesees in Mecklenburg-Vorpommern – und ein seltenes Beispiel dörflicher Naziarchitektur. An der Stelle der Tipp, tatsächlich mal auf den Link zu klicken und sich den Wikipedia-Artikel dazu mal kurz vorzunehmen.

Der Vorsitzende des Gedenkstätten-Vereins hatte Dr. Anja Peters allerdings zunächst auf eine falsche Fährte geschickt: Er schlug vor, sich mit den Krankenschwestern* in Alt Rehse zu beschäftigen. Bei ihren Recherchen stellt Dr. Anja Peters allerdings fest, dass an der Führerschule der deutschen Ärzteschaft nie Krankenschwestern zu Kursen eingeladen waren, stattdessen aber die Hebammen als einziger nichtakademischer, medizinischer Beruf.

Dass nach Alt Rehse nur Hebammen eingeladen wurden, hing mit den Verbindungen zusammen, die die Leiterin der Reichshebammenschaft, Nanna Conti, zur Ärzteschaft hatte. Denn ab 1939 war ihr Sohn Leonardo Conti Leiter des „Hauptamtes für Volksgesundheit“, und damit als Reichsgesundheitsführer auch Chef der Reichsärztekammer. Leonardo Conti gehörte um Personenkreis, der im Januar 1940 im Alten Zuchthaus Brandenburg an Tötungen von Menschen in der Gaskammer und per Injektion zu Vergleichszwecken teilnahm, den sogenannten „Brandenburger Probevergasungen“. Das nur zur Einordnung der Verbindung. Diese Verbindung sicherte seiner Mutter Nanna Conti einen exklusiven Zugang zum Ärztestand und damit ins Gesundheitswesen.

In der Diplomarbeit ging es dann aber weniger um Nanna Conti. Weil die aber eine so zentrale Figur war in dieser Geschichte, wollte ein schwedischer Kollege, Professor Nilsson, dass sich Anja Peters des Themas nochmal annimmt. Er versuchte deshalb sie zu überreden, eine Forschungsarbeit über Nanna Conti zu anzugehen. Aber so direkt nach der Diplomarbeit hatte Dr. Anja Peters eher wenig Lust, sich gleich wieder in die Bücher zu stürzen. Auch, weil das Thema nicht gerade erbaulich ist. Aber so leicht ließ sich der Professor nicht abwimmeln. Er spricht Dr. Anja Peters erneut auf das Thema an. Wieder lehnt sie, diesmal hochschwanger mit dem zweiten Kind, dankend ab.

„Ich hab gesagt: Nee, jetzt wirklich nicht. Ich hab schon einmal eine Schwangerschaft mit Nazihebammen verbracht.“

Dr. Anja Peters

Drei Monate nach der Geburt des Kindes, meldete sich Professor Nilsson dann allerdings erneut. Das Kind sei ja jetzt da, dann können sie ja loslegen. Und dann, sagt die Forscherin, habe sie sich halt einfach in ihr Schicksal ergeben. Dass aus dem ursprünglichen Forschungsprojekt dann eine Dissertation wurde, hat sich dann einfach so ergeben.

Warum sich Dr. Anja Peters diesen wirklich harten und selten schönen Stoff überhaupt antut, das fragt sie sich manchmal auch. Aber sie hat auch eine ganz klare Antwort auf diese Frage. Denn für sie gehört das entscheidend zur politischen Bildung dazu. Und gerade die Täterinnenforschung ist in Deutschland komplett unterbeleuchtet.

„Das ist für mich ein ganz wesentlicher Anteil von Demokratiearbeit in Deutschland, sich mit dieser Epoche zu befassen und auch aufzuklären und vor allem die vielen, vielen Lücken zu schließen, die da noch existieren.“

Dr. Anja Peters

Historische Pflegeforschung im Kontext

Bevor wir allerdings näher auf das Thema Nanna Conti eingehen, machen wir einen kleinen Exkurs zum Thema historische Pflegeforschung. Denn, das ist mir auf dem Histocamp in Berlin sehr bewusst geworden, dieses Themenfeld haben wir kaum im Blick. Und das finde ich einigermaßen erstaunlich. Dass dieses Berufsfeld so unter den Tisch fällt, ist ein deutsches Phänomen, erklärt mir Dr. Anja Peters. In Großbritannien ist das komplett anders. Da gibt es durchaus prominente Krankenschwestern. Wie zum Beispiel Edith Cavell, deren Statue in London am Trafalgar Square steht, auch wenn Dr. Anja Peters die bis heute nicht gefunden hat (sachdienliche Hinweise gerne an @thesismum).

Dass es in Deutschland keine entsprechenden Heldinnen aus dem Bereich der Pflege gibt, liegt unter anderem an den zwei verlorenen Weltkriegen, erklärt die Pflegeforscherin. Denn klar waren zahlreiche Krankenschwestern auch an der Front unterwegs, um die dort verwundeten Männer zu pflegen. Nicht wenige sind bei ihrer Tätigkeit auch ums Leben gekommen. Von allen anderen Sachen, die einer Frau in dieser Situation zustoßen können mal ganz zu schweigen. Aber Heldinnen der Pflege kennen wir in Deutschland trotzdem nur wenige namentlich.

Frau Nora: „Warum ist das in Deutschland so, dass wir uns gar nicht so sehr mit historischer Pflegeforschung beschäftigen? Dass wir da keine Heldinnen haben wie Edith Cavell?“

Dr. Anja Peters: „Um es mal flapsig zu sagen: Zwei verlorene Weltkriege sind echt schlecht für die Stimmung. Das macht es mit der Heldinnengeschichtsschreibung schon mal schwieriger.“

Aus dem Podcast-Gespräch vom 20.01.2020

In beiden Weltkriegen hat das Deutsche Reich eine nicht besonders ruhmreiche Figur abgegeben. Und nach 1945 war es zudem auch einfach opportun, sagt Dr. Anja Peters, eben nicht so in Erscheinung zu treten und stattdessen anzugeben, dass man ja eh nur das ausgeführt hat, was die Ärzte angeordnet haben.

Ein weiterer Unterschied ist aber zudem, dass in England und Großbritannien im Bereich der Pflege bereits sehr früh ein anderer Weg gegangen worden ist. Dort hat schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Professionalisierung des Berufs stattgefunden. In Deutschland und Österreich hingegen wurde am Mutterhausprinzip religiöser Einrichtungen festgehalten.

Das heißt: Die Pflege im 19. Jahrhundert geht in Deutschland und Österreich ganz massiv von den karitativ tätigen Ordensschwestern und Diakonissen aus. Diese Organisierung wurde von Theodor Fliedner 1836 mit der „Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen“ gegründet. Fliedner übernimmt dabei das Mutterhausprinzip der katholischen Ordensschwestern. Das heißt, es gibt eine Institution, an die eine Schwester gebunden ist, zu dem sie gehört und das auch die Familie konstituiert mit einer Mutter Oberin oder Priorin und einem Priester oder Pastor als Hausvater. Diese Pflege wird als Dienst am Menschen wahrgenommen. Bei den katholischen Schwestern zusätzlich verbunden mit dem Gelübde des Zölibats.

Dieses Mutterhausprinzip verlieh den unverheirateten, evangelischen Frauen, die unbegleitet in die Welt hinaus und in fremde Häuser gingen, eine respektable Attitüde. Damit konnten sich diese Frauen relativ frei bewegen. Daher kommt auch die Schwesterntracht, die in der Anmutung der einer verwitweten Bürgersfrau entspricht, erklärt Dr. Anja Peters.

Dass es so viele unverheiratet Frauen gibt, liegt unter anderem an den Kriegen. Denn je mehr Kriege es gibt, desto weniger potenzielle Ehemänner stehen zur Verfügung. Was in dieser Zeit hieß, es gab keine Versorger. Die Frauen mussten also selber ein Auskommen finden. Bei den Diakonissen war das möglich. Und weil die sich nicht lebenslang an ein Mutterhaus binden mussten, blieb den Frauen auch noch die Möglichkeit, später doch noch zu heiraten. Falls sich kein Mann zum Heiraten fand, hatten die Frauen weiterhin die Möglichkeit, durch das Mutterhaus sozial abgesichert leben zu können.

„Die Diakonissen bieten eine Möglichkeit, respektabel ein Auskommen zu finden und auch noch dem Herrgott zu dienen.“

Dr. Anja Peters

In meinen Ohren klingt das alles erst mal auch nach einer Möglichkeit, als Frau ein irgendwie selbstbestimmtes Leben zu führen, bei dem sie die Chance hat, sich Wissen anzueignen und das dann auch umsetzen zu können, beziehungsweise leben zu können. Aber da bremst mich Dr. Anja Peters sofort ein. Denn das Leben in diesen Mutterhäusern war alles andere als selbstbestimmt.

Die Frauen waren dem Mutterhaus komplett unterworfen, was hieß, dass sie auch enorm kontrolliert wurden. So durfte zum Beispiel sogar die private Post geöffnet und gelesen werden. Und natürlich, sagt Dr. Anja Peters, wurden die Frauen dort auch ausgebeutet. Es wurde zum Beispiel von ihnen erwartet, dass sie die Freizeit sinnvoll nutzten und Krankenwäsche flickten. Aber ohnehin war „selbstbestimmtes Leben“ kein Konzept, das viele Frauen im 19. Jahrhundert gehabt hätten. Geschweige denn Männer. Und aus der Zeit heraus betrachtet war das trotz Ausbeutung ein einigermaßen fairer Deal, erklärt Dr. Anja Peters.

Der Vorteil dieses Modells der organisierten Pflegearbeit: Es wurden schnell viele Frauen generiert, die mit einer kurzen Ausbildung von einigen Wochen als Pflegerinnen zu den Menschen oder in die Krankenhäuser geschickt werden konnten. Die Ausbildung wurde dann im Laufe der Jahre auf ein paar Monate erweitert, und irgendwann zu einer richtigen, mehrjährigen Ausbildung weiterentwickelt. Heute können Pflegewissenschaften auch studiert werden. Aber das, sagt Dr. Anja Peters, war hierzulande eben ein langer Weg, der in England und den USA bereits 100 Jahre früher eingeschlagen worden ist.

Im Übrigen übernimmt auch das Deutsche Rote Kreuz das Modell der Mutterhäuser. Die Strukturen dort waren nicht weniger paternalistisch als bei den religiösen Vorbildern. Und auch dort findet sich das sehr christlich geprägte Konzept des Dienstes am Menschen wieder. Auch bei Rotkreuzschwestern gab es teilweise in den Mutterhäusern Oberinnen, die ein großes Christuskreuz auf der Brust trugen. Selbst die jüdische Schwesternschaft, die sich in Frankfurt am Main bildet, übernimmt das Modell von Fliedner, was sich unter anderem an der Kleidung und am Auftreten der jüdischen Schwestern zeigt, die ebenfalls im schwarzen Kleid mit Schleier auftreten. Statt des Kreuzes tragen sie allerdings den Davidstern.

Währenddessen verbreitet sich in Großbritannien unter Florence Nightingale, die im Übrigen 1850 einige Monate in Kaiserswerth bei Düsseldorf verbrachte und dort die Arbeit von Thomas Fliedner kennenlernte, ein eher säkulares Modell. Dadurch wird die Krankenpflege dort viel früher als Beruf entwickelt. Eine Entwicklung, die auch in die USA rüberschwappt, erklärt Dr. Anja Peters.

Vor einem Monat, im Dezember 2019, wurde in Großbritannien das 100-jährige Jubiläum des Nurses’ Registration Act gefeiert. Die Verordnung besagte, dass sich Krankenschwestern registrieren mussten. Neben einem guten Charakter mussten sie eine mindestens einjährige Ausbildung sowie zwei Jahre praktische Arbeit vorweisen. Die erste registrierte Krankenschwester war Ethel Gordon Fenwick. Sie geht als „Nurse number one“ in die Geschichtsbücher ein. Sie ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass ein solches Register eingeführt wurde. Mit der Registrierung werden vor allem Standards gesetzt und Voraussetzungen festgelegt, um diesen Beruf ergreifen und ausüben zu dürfen. Ebenfalls vor 100 Jahren gab es die ersten Pflegestudiengänge in den USA.

Dass es in Deutschland so gar keine großen Vorbilder unter den Pflegefachkräften gibt, stimmt allerdings auch nicht so ganz. Es gibt nur einfach sehr, sehr wenige und die sind außer in Fachkreisen auch nicht besonders bekannt. Eine von ihnen ist Agnes Karll (1868 – 1927), die als Reformerin der deutschen Krankenpflege verehrt wird. Sie wurde 1903 die erste Vorsitzende der Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands sowie der Säuglings- und Wohlfahrtspflegerinnen und arbeitete deren Satzung aus.

„Agnes Karll, das ist halt eine. Eine, die die Leute kennen.“

Dr. Anja Peters

Das Problem mit der zwiespältigen Erinnerungsgeschichte

An diesem kleinen Exkurs zeigt sich ziemlich schnell, wie schwierig und zwiespältig es ist, sich mit diesem Berufszweig historisch auseinanderzusetzen in Deutschland. Natürlich gab es Schwestern, die durch ihre Fähigkeiten Menschenleben gerettet haben. Auch im Krieg. Nämlich die Leben von Soldaten. An die erinnern wir uns aber nicht so gerne, weil bei den Gründen für diesen Krieg Deutschland zum einen nicht so eine ganz rühmliche Rolle gespielt hat, und zum anderen den Krieg dann auch noch verloren hat. Unter dem Aspekt an die Frauen zu erinnern, die eben auch bei diesen Kriegseinsätzen ums Leben gekommen sind – das will nicht so richtig passen.

Und dann ist da ja auch noch die Tatsache, dass während des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg diese Frauen ihre Fähigkeiten nicht nur zum Heilen und Pflegen eingesetzt haben, sondern auch zum Morden. Auch nicht der allerbeste Grund, um da jetzt Denkmäler zu bauen. Und so verschwinden im Prinzip alle Frauen, die diesen Beruf ausgeübt haben, irgendwo hinter den Geschichten der Männer, die politisch und auf dem Feld Kriege angezettelt und geführt haben. Und das wiederum führt dazu, dass diese Frauen im Falle des Missbrauchs ihrer Fähigkeiten eben auch nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Das ist alles – puh – starker Tobak und nicht so leicht in Worte zu fassen.

NS-Verbrechen von Pflegenden und Hebammen

Und es war nicht nur das Morden durch Pflegende, das im Nationalsozialismus stattgefunden hat. Es war auch das Melden von sogenannten Erbkranken. Zum Beispiel eben durch Hebammen, die verpflichtet waren alle Neugeborenen, die gesundheitlich auffällig waren, zu melden und für das Entdecken und Melden einer Erbkrankheit oder Missbildung eine Aufwandsentschädigung von zwei Reichsmark erhielten. Wie viele Hebammen das tatsächlich gemacht haben, lässt sich nicht feststellen, sagt Dr. Anja Peters. Sicher ist nur, dass sich die NS-Führung gerne mehr Rückmeldungen gewünscht hätte.

„Die Rückmeldungen waren wohl nicht zufriedenstellend. Leonardo Conti hat sich beschwert, dass da zu wenig kommt. Aber es haben Hebammen gemacht. Ich hab Abrechnungen gesehen.“

Dr. Anja Peters

Dass die Hebammen nicht wussten, was nach so einer Meldung mit den Kindern passierte, bezweifelt Dr. Anja Peters. Zumal es auch Eltern gab, die aktiv angefragt haben, ob man ihr Kind nicht „einer erfolgsversprechenden Behandlung“ zuführen könnte. Mit anderen Worten: Diese Eltern haben aktiv nach Möglichkeiten gesucht, ihr Kind töten zu lassen. Auf der anderen Seite gab es Eltern, die verzweifelt versucht haben, ihre Kinder aus den Anstalten raus zu bekommen. Auch das spricht eher dafür, dass es zumindest eine Vermutung gab, was mit diesen Kindern passieren würde. (https://www.sueddeutsche.de/muenchen/landkreismuenchen/landkreis-muenchen-haar-nationalsozialismus-euthanasie-1.4760429)

„Bei den Erwachsenen wissen wir es auch, dass es die Betroffenen zum Teil wussten in den Anstalten. Die wussten, was das bedeutet, wenn die Busse vorfahren.“

Dr. Anja Peters

Reichshebammenführerin Nanna Conti

Und damit wären wir bei Nanna Conti. Dazu muss man sagen, dass „Reichshebammenführerin“ nicht ihr offizieller Titel war. Sie war Leiterin der Reichsfachschaft deutscher Hebammen, später Leiterin der Reichshebammenschaft – im NS wurden unglaublich oft Bezeichnungen gewechselt – aber sie wurde von allen Reichshebammenführerin genannt, weshalb wir diesen Titel hier ebenfalls verwenden.

Als sie 1933 eingesetzt wurde, hatte sie die Aufgabe, alle deutschen Hebammenverbände zusammenzuführen. In der Weimarer Republik gab es die üblichen, an den politischen Kampflinien entlang gezogenen Spaltungen, erklärt Dr. Anja Peters. Auch in den Hebammenverbänden. Nanna Conti sollte das alles vereinheitlichen. Zunächst gemeinsam mit der sächsischen Hebammenvorsitzenden Emma Rauschenbach, einer sehr einflussreichen Frau unter den Hebammen. Die wurde aber bis 1935 zunächst aus dem Rampenlicht und dann ganz ins Abseits gedrängt.

„Die Reichshebammenschaft wurde im Rahmen einer autoritären Führerorganisation umgestaltet. Klassische Top-Down-Hierarchiekette.“

Dr. Anja Peters

Nanna Conti an der Spitze war damit für die Durchsetzung aller Anordnungen und Gesetze nach unten an die Basis verantwortlich, sowie zuständig für die Multiplikation der NS-Ideologie. Eine gar nicht so leichte Aufgabe, denn der Hebammenberuf war sehr dezentral organisiert, die meisten Hebammen waren selbständig irgendwo alleine tätig. Um alle Hebammen zu erreichen, hat die Organisation eine unglaubliche Schulungstätigkeit entwickelt, sagt Dr. Anja Peters. Auf den kleinsten Ebenen wurden regelmäßige Schulungen und Zusammenkünfte organisiert, um die Hebammen jener Zeit auf Linie zu bringen. Besondere Hebammen wurden dann auserkoren, bei den Schulungen in Alt Rehse teilzunehmen, „immer mit dem Ziel, den Wissensstand, aber auch den Grad an Weltanschauung zu vereinheitlichen“, sagt Dr. Anja Peters.

So richtig überprüfen, ob das auch funktioniert hat, ließ sich das natürlich nicht. Aber es gab bereits in den letzten 300 Jahren immer wieder Bestrebungen, Hebammen zu kontrollieren. Auch wohl deshalb, weil sie im Prinzip nicht zu kontrollieren waren, sagt Dr. Anja Peters, weil sie unbeobachtet in der Häuslichkeit gearbeitet haben.

Das hat sie einerseits lange Zeit sehr dubios gemacht, weil man – oder auch Mann – nicht so genau wusste, was da passiert. In aller Regel waren bei Geburten nur Frauen anwesend, es sei denn, es wurde ein Arzt hinzugezogen. Gleichzeitig, sagt Dr. Anja Peters, bot das dem NS die Möglichkeit über die Hebammen Zugang zu fast jeder Familie zu bekommen.

Und ganz ehrlich: Bei diesem Satz schüttelt es mich so richtig.

„Und genau das wollte man erreichen. Genau deshalb war es ja so wichtig, die Hebammen auf Linie zu bringen. Die Hebammen sollten Zuträgerinnen werden für die Erbgesundheitskartei.“

Dr. Anja Peters

Im Prinzip eine groß angelegte Datenerhebung im Auftrag des NS-Staates – unter Mitwirkung von IBM, ergänzt Dr. Anja Peters.

Die Hebammen waren also enorm wichtig für die NS-Bevölkerungspolitik. Sie hielten – so die ideologische Überhöhung – „die Zukunft des deutschen Volkes“ in ihren Händen. Denn das Ziel war es ja, die Bevölkerungszahl zu steigern und „gesunden, ethnisch reinen, deutschen Nachwuchs“ zu produzieren. Und auch hier schüttelt es mich schon wieder. Aber so richtig. Das löst bei mir einfach sofort einen schlimmen Würgreflex aus. Allein schon deshalb, weil das alles so nach Zuchtprogramm für Menschen klingt.

Und ungefähr so war das im Prinzip auch. Dr. Anja Peters erinnert sich an diesen Moment während ihrer Diplomarbeit, als sie sich – bereits hochschwanger – mit den Inhalten der Hebammen-Kurse in Alt Rehse beschäftigt hat. Einer der Vorträge ist von einem Kinderarzt aus Berlin. Seine These: Bei den Menschen sei es wie im Tierreich. Man könne entweder eine Fleischkuh oder eine Milchkuh züchten. Wenn man das als Frau liest, während die spannenden Brüste schon davon künden, dass es demnächst ein Kind zu stillen gilt, ist so eine Lektüre doch recht bizarr: „Das war einer der schrägeren Momente.“

Auf der anderen Seite kann Dr. Anja Peters aber auch gut nachvollziehen, warum die NS-Doktrin und der Mütterkult so verfangen haben. Es ist wie ein schleichendes Gift, sagt sie. Als sie mit den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit beginnt, hat sie gerade ihr zweites Kind zu Welt gebracht. Das heißt einfach auch, sich müde fühlen und durch das Stillen buchstäblich ausgelaugt. Wer in diesem Zustand Texte darüber las – oder von der Hebamme erzählt bekam – wie toll das Muttersein ist und was für eine ehrenvolle Aufgabe es ist, ein Kind großzuziehen und es hingebungsvoll zu stillen, fühlt sich wahrgenommen und geehrt. Zur NS-Ideologie gehörte nämlich auch eine massive Stillpropaganda.

„Und dann merkst du, wie dieses Gift träufelt. Die sagen dir die ganze Zeit, wie hammertoll du bist, weil du das machst und dich aufopferst und als Mutter bist du einfach die Größte.“

Dr. Anja Peters

Zur Überhöhung des Mutterseins gehörte auch die völlige Bereitschaft, sich eben darauf einzulassen. Das Wochenbett wurde damals auch als das „Schlachtfeld der deutschen Mutter“ bezeichnet. Und dazu gehörte auch, dass die deutsche Mutter ihr Kind selbst nährt, erklärt Dr. Anja Peters. Und natürlich ist Muttermilch zunächst mal die beste Nahrung für ein Kind, um es durch die ersten Monate zu bringen und es beispielsweise vor Infektionen zu schützen. Zudem war die Ersatznahrung noch nicht so gut wie heute. Das Motiv im NS war allerdings nicht das individuelle Wohlergehen von Mutter und Kind.

„Man muss bei allen gesundheitspolitischen Maßnahmen und Kampagnen, die im NS gefahren wurden, bedenken: Es geht nie um das Individuum. Es geht nie drum, dass es dieser Mutter und diesem Kind gut geht. Sondern es geht immer um diesen ominösen und abstrakten Volkskörper, des es gesund zu halten gilt.“

Dr. Anja Peters

Im Nationalsozialismus hieß das: Mädchen wurden zu zukünftigen Heldenmüttern erzogen und Jungs zu zukünftigen Verteidigern des Landes, oder wie ich es nenne: Kanonenfutter.

Geschichtsforschung dank Internet

An dieser Stelle gibt es übrigens nochmal einen kleinen Ausflug ins digitale Zeitalter. Denn dass uns so viel Wissen auch über die NS-Zeit fehlt, liegt nicht nur an einer männerdominierten Geschichtsforschung und -schreibung. Vieles können wir, ganz unabhängig von diesem Thema, auch erst heute überhaupt erforschen. Vorher fehlten vor allem die technischen Voraussetzungen, sowie der Zugang zu Dokumenten, die in der DDR lange unter Verschluss waren.

„Ganz viel Forschung im Bereich NS-Gesundheitsforschung, Pflegegeschichte, Hebammengeschichte können wir im Grunde jetzt erst machen nach der Wiedervereinigung.“

Dr. Anja Peters

Vorher war es einfach nicht möglich an die Archive ranzukommen, bei denen die Unterlagen aufbewahrt waren, geschweige denn nach den Ortsarchiven vernünftig zu recherchieren. Dank Internetrecherche und E-Mails konnte Dr. Anja Peters in Dokumenten aus über 60 Archiven recherchieren. Bei vielen davon war sie persönlich. Aber alle persönlich zu besuchen wäre schlicht nicht möglich gewesen.

Weil die Recherche nach Unterlagen zu Nanna Conti so mühsam war, gab es zwischendurch auch den Punkt an dem Dr. Anja Peters dachte, ihre Doktorarbeit würde nicht dicker als ein Flugblatt werden. Es sind dann doch weit über 400 Seiten geworden. Der entscheidende Hinweis kam von einer Archivarin aus Hamburg, die einen winzig kleinen Zeitungsschnipsel im „Völkischen Beobachter“ zu Nanna Conti findet. In diesem Zeitungsausschnitt geht es um die Kontakte, die Nanna Conti nach Belgien hatte.

Das Reichshebammengesetz

Überhaupt, sagt Dr. Anja Peters, war Nanna Conti unglaublich polyglott und reiselustig. Selbst im Krieg ist die Reichshebammenführerin noch gereist, um sich mit internationalen Kolleginnen auszutauschen. Ein Austausch, den sie sehr genossen hat, nicht zuletzt wegen der eigenen Wichtigkeit, die sie da feiern lassen konnte, denn Nanna Conti war später erst Generalsekretärin und dann Präsidentin des internationalen Hebammenverbandes.

Was mich an der Stelle enorm wundert, ist, dass das unkritisiert passiert ist. Denn es war kein Geheimnis, dass Nanna Conti eine absolute Verfechterin der Rassenideologie und Antisemitin war. Dr. Anja Peters sagt, aus den spärlichen Protokollen des internationalen Hebammenverbandes, der damals ein europäischer Verband war, geht keine Kritik hervor. Allerdings haben sich Hebammen und Krankenschwestern auch immer als unpolitischer Beruf verstanden.

Hinzu kam, dass es Nanna Conti mit dem Reichshebammengesetz gelang, in Deutschland und Österreich eine Sonderrolle für Hebammen zu schaffen, was im Ausland auf große Bewunderung bei den anderen Hebammen gestoßen ist. Im 1938 in Kraft getretenen Reichshebammengesetz, das auch heute noch ganz wichtig ist für Deutschland und Österreich, wird verankert, dass die komplikationslos verlaufende Geburt die Domäne der Hebamme ist. Damals sogar noch mit dem Zusatz, dass zu jeder Geburt eine Hebamme hinzugerufen werden muss.

„Bis heute ist es ja so: Solange keine Komplikation eintritt, stehen in den Krankenhäusern Ärztinnen und Ärzte allenfalls beobachtend daneben. Und selbst das müsste eigentlich nicht sein.“

Dr. Anja Peters

Durch diese Monopolstellung der Hebammen in Deutschland und Österreich, die immer noch einzigartig ist, hat sich die Bewunderung für Nanna Conti auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus gehalten. Bereits kurz nach Ende des Krieges tauchte ihr Name wieder in Büchern auf, in denen sie als eine der Leuchtfiguren des Hebammenstandes bezeichnet wird. Diese Geschichtsschreibung hat sich bis in die 80er Jahre gehalten. Und Grund dafür war eben das Reichshebammengesetz, dass uns hier in Deutschland die Geburtshilfe gesichert hat. Aber:

„Mit dem gleichen Gesetz, für das Nanna Conti so gefeiert wird, wurden auch Jüdinnen vom Beruf ausgeschlossen. Und politisch unliebsame Hebammen.“

Dr. Anja Peters

Das wird allerdings nicht so gerne erwähnt. Und auch nicht, dass Nanna Conti das persönlich bis in die untersten Ebenen verfolgt hat. Und das in einer Zeit, in der vornehmlich per Brief und nur manchmal per Fernsprecher, sprich Telefon, kommuniziert wurde. Dabei war die Reichshebammenführerin für ein riesiges Gebiet verantwortlich. Also nicht nur für Deutschland, sondern auch für Österreich und den sogenannten Sudetengau und allem, was sich Deutschland da noch so einverleibt hat. Es werden sogar Dependancen in den besetzten Ostgebieten gegründet.

Es wird organisiert, dass Hebammen abgestellt werden, die die heimgeholten Reichsdeutschen betreuen und ihnen erklären, wie sich ein „richtiger Deutscher“ verhält, weil die Heimgeholten in den Augen der Nationalsozialisten nicht so reinlich und so sauber waren, wie die Deutschen im alten Reich. Nanna Conti hat also eine riesige Fülle an Aufgaben. Trotzdem lässt sie es sich nicht nehmen, sich selbst auf den untersten Ebenen noch in bestimmte Fälle einzumischen. Die Briefwechsel dazu hat Dr. Anja Peters in den Landesarchiven gefunden.

In einem Fall ging es darum, dass eine Hebamme eine jüdische Hausiererin bei sich hat übernachten lassen. Die Hebamme gibt an nicht gewusst zu haben, dass diese Frau, die später von den Nazis ermordet wird, Jüdin gewesen sei. Der Konflikt findet zunächst auf lokaler Ebene statt. Trotzdem fühlt sich Nanna Conti bemüßigt, sich aus dem fernen Berlin zuzuschalten, um anzuweisen, dass die Hebamme gerügt und in einen anderen Bezirk versetzt werden soll, von dem klar war, dass sie den als ältere Hebamme alleine gar nicht schaffen kann.

Ein anderer Fall spielt sich in Wien ab. Da will eine Hebamme in die NSDAP eintreten. Bei der Überprüfung des Stammbaums stellt sich heraus, dass der Vater Jude ist. Damit ist die betreffende Hebamme Halbjüdin. Auch in diesen Fall schaltet sich Nanna Conti aus Berlin ein und versucht, diese Frau buchstäblich zu runieren, erzählt Dr. Anja Peters.

„Die versucht die echt aus Berlin fertig zu machen.“

Dr. Anja Peters

Dass sie überhaupt von diesen Fällen erfahren hat, lag am unglaublich guten Netzwerk von Nanna Conti. Zudem war sie extrem viel unterwegs, omnipräsent, war die Schriftleiterin der Hebammen-Zeitschrift, deren Artikel sie zu großen Teilen selbst verfassete und bewältigt schlicht einen unglaublichen Workload, sagt die Forscherin.

Trotz all der Taten, die über das Netzwerk von Nanna Conti und ihre Hebammenkurse verübt wurden, wurde sie nie juristisch belangt. Dr. Anja Peters vermutet, dass sich damals einfach niemand so richtig vorstellen konnte, was eine Hebamme mit dem Nationalsozialismus zu tun hatte. Es hat ohnehin lange gedauert, bis sich die Justiz mit den sogenannten Schreibtischtätern und -täterinnen beschäftigt hat. Und mit denen, die ganz im Hintergrund gearbeitet haben, wie zum Beispiel Stenotypistinnen, fangen wir sowieso gerade erst an.

Aber nicht zuletzt auch durch ihren Sohn Leonardo Conti, der bei den sogenannten „Brandeburger Probevergasungen“ teilgenommen hatte, war der Name Conti nach dem Krieg verbrannt. Die ganze Familie war nach Kriegsende gesellschaftlich geächtet. Das galt auch für die noch jungen Enkelkinder von Nanna Conti.

Aber als sich Ende der 1940er der internationale Hebammenverband in London wieder zu konstituieren beginnt, sind auch schnell die ersten deutschen Delegierten wieder dabei. Die bringen aber die Botschaft mit nach Hause, dass man dort mit ehemaligen Nazis nicht zusammenarbeiten wolle. Trotzdem wird bereits auf einem der ersten Kongresse wieder ehrend Nanna Contis gedacht, der ersten Präsidentin des Weltverbandes. Und die ganzen Gauleiterinnen, die von Nanna Conti eingesetzt wurden, wie zum Beispiel Luise Zickfeld in NRW und Käthe Hartmann in Bayern, sind diejenigen, die den Verband in Westdeutschland nach 1945 wieder aufbauen. Das sind die Landesvorsitzenden und späteren Bundesvorsitzenden. Und das sind nur einige Namen von Frauen, die es nach Ende des Nationalsozialismus wieder in leitende Positionen der Hebammen- und Pflegendenverbände geschafft haben.

Nanna Conti selbst stirbt 1951 verarmt und erkrankt.

In den 2000er Jahren bekennt sich der deutsche Hebammenverband, der der Rechtsnachfolger der Reichshebammenschaft ist, zu seiner Vergangenheit. Womit sich der Verband noch nicht wirklich befasst hat, sagt Dr. Anja Peters, ist, dass sie das nicht ganz unerhebliche Verbandsvermögen der Reichshebammenschaft geerbt haben.

„Nanna Conti war eine ganz furchtbare Rassistin.“

Dr. Anja Peters

Was ich mich ja an der Stelle frage ist, wie dieses Gift der Rassenideologie und des ethnisch, wie geistig und körperlich gesunden Menschen als einziger lebenswerter Daseinsform wieder aus dem Hebammenberuf herausextrahiert worden ist. Also natürlich hat sich die Gesellschaft seitdem weiter entwickelt. Auch in der Pädagogik sind neue Konzepte entwickelt worden, die mit der schwarzen Pädagogik aufgeräumt haben. Und trotzdem war bis weit in die 80er Jahre hinein ein Erziehungsratgeber der Lungenfachärztin Johanna Haarer in vielen seutschen Bücherregalen zu finden. Darin standen so Tipps, wie Kinder nicht hochzunehmen, sondern schreien zu lassen, weil das die Lungen stärke.

Das heißt, selbst wenn die heutige Hebammenausbildung eine ganz andere ist, weil es eben auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse in den verschiedensten Bereichen gibt: Die Hebammen von damals haben ja noch weiter praktiziert, waren in einflussreichen Positionen und haben weitere Hebammen ausgebildet. Wie lange hat das gedauert, bis die Ideologie und das Weltbild des NS verschwunden sind? Eine Frage, die sich nicht so richtig gut beantworten lässt.

Unter den Hebammen, die heute praktizieren, sind ganz sicher viele Idealistinnen. Und die haben sicher nicht im Sinn, den Frauen oder den Kindern, denen sie mit auf die Welt helfen, zu schaden. Darin liegt aber auch eine Gefahr, sagt Dr. Anja Peters. Denn vor allem in der Idealisierung des Berufes ist er auch heute noch anfällig für eine Ideologisierung im Sinne von Staatsdoktrin. Die Gefahr liegt in der Unangreifbarkeit. Im Glauben, auf der Seite des Guten zu stehen, ist leider schon ziemlich viel Mist passiert.

„So lange man in diesem idealisierten Bild ist „Wir sind die Guten“, macht man sich selbst unangreifbar, unkritisierbar und wieder so saintlike.“

Dr. Anja Peters

Dass es da doch noch einiges aufzuarbeiten gibt, zeigt zum Beispiel die eugenische Debatte. Also die Diskussionen um alles, was mit Erbkrankheiten zu tun hat. Die ist, sagt Dr. Anja Peters, seit 1945 nie so richtig aufgearbeitet worden.

Ich will zum Schluss vor allem noch eins wissen: Nach all dem, was sie über Nanna Conti recherchiert hat – wie sieht Dr. Anja Peters die Person Nanna Conti heute? Eine gemeine Frage, das gebe ich gerne zu. Und die Antwort darauf, die dürft ihr euch im Podcast anhören. Denn das ist eine so vielschichtige Sache, dass ich sie nicht einfach so hier runtertippen möchte. Die muss im Kontext bleiben. Vielleicht ein abschließender Satz dazu von Dr. Anja Peters, um Nanna Conti auch noch mal ganz klar einzuordnen:

„Nanna Conti hat sich bereitwillig, freiwillig im vollem Bewusstsein und mit all ihren Fähigkeiten in den Dienst einer absolut mörderischen Ideologie gestellt. Und damit ist sie eine derjenigen, die gerade durch diese Multiplikatorinnen-Tätigkeit, dieses Organisieren, die für diese unglaublichen Verbrechen an Frauen, an Kindern, an ganzen Familien mitverantwortlich ist.“

Dr. Anja Peters

Was wir hier besprechen, ist natürlich trotzdem nur ein kleiner Einblick in das, was Dr. Anja Peters für ihre Doktorarbeit recherchiert und aufgeschrieben hat. Wer also mehr wissen möchte, dem sei an dieser Stelle ihre Doktorarbeit empfohlen. Die konnte Dank einer Crowdfundingkampagne, die sie auf Twitter als @thesismum initiiert hat, überhaupt erst veröffentlicht werden.

Seit 2018 ist das Buch der Öffentlichkeit zugänglich. Aber damit ist Dr. Anja Peters noch längst nicht fertig mit ihrer Doktorarbeit. 90 Prozent der Einnahmen aus den Verkäufen und Tantiemen legt sie zurück, um das Buch auch auf Englisch übersetzen zu lassen. Die restlichen zehn Prozent spendet sie an Zwecke, die Nanna Conti ganz sicher nicht gefallen hätten, sagt sie.

*Dass in diesem Artikel die Rede von Krankenschwestern ist und nicht von Pflegefachleuten, ist historisch begründet

**Dass hier vornehmlich Ärzte steht und nicht Ärztinnen hat ebenfalls damit zu tun, dass weibliche Ärzte zu dieser Zeit kaum in Erscheinung getreten sind. Viele davon waren außerdem jüdischer Herkunft und haben Deutschland, so es denn ging, verlassen.