Ein Rechtsextremer greift an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungsfest, eine Synagoge an. Er scheitert beim Versuch, in die Synagoge einzudringen. Aus Frust über sein Scheitern erschießt er eine Passantin, erschießt er fast einen weiteren Mann, der ihn anspricht, obwohl er schwer bewaffnet ist. Schießt in einen Döner-Imbiss. Tötet einen weiteren Menschen. Und in den sozialen Netzwerken starten die Diskussionen.
Ich könnte mich an diesem Punkt an vielen Diskussionen beteiligen. Medienkritik. Kritik der Politik. Rechte Verschwörungstheorien. Im Prinzip das Übliche. Ich beschränke mich darauf, einen Hinweis zu twittern, wie ich jetzt finde, dass soziale Netzwerke genutzt werden sollten.
- Um der Opfer zu Gedenken
- Um die Polizei bei ihrer Arbeit zu unterstützen, indem weder Videos noch Bilder direkt in sozialen Netzwerken geteilt werden
- Um Quellen einer genauen Prüfung zu unterziehen und nur das zu verbreiten, was zum gegebenen Zeitpunkt als sichere Erkenntnis angenommen werden kann
Nachdem ich den Aufruf von Sawsan Chebli gelesen habe, Menschen mögen sich als Zeichen der Solidarität am Abend vor den Synagogen in Deutschland versammeln, beschließe ich mit einer pinken Kerze, die ich in einem meiner Schränke finde, zur Kölner Synagoge zu fahren. Einfach um da zu sein. Und ja, das ist vor allem Ausdruck meiner Hilflosigkeit und Ohnmacht in dieser Situation
Bis spät in die Nacht verfolge ich Diskussionen auf Twitter. Eine Aspekt sticht mir dabei besonders ins Auge, die mit viel Wut und Schmerz geführt wird. Wer ist eigentlich betroffen? Wer wird hier angegriffen? Es wird die Aussage kritisiert, dass der Angriff auf die Synagoge in Halle ein Angriff auf uns als Gesellschaft sei. Und ja, ich kann das verstehen. Aber es lohnt, das zu differenzieren und zu fragen, wer ist hier eigentlich „WIR“?
Es ist eine Frage nach der Art der Betroffenheit, die hier diskutiert wird. Das Attentat galt zunächst ganz gezielt Jüdinnen und Juden. Das geht auch aus dem Manifest des Attentäters hervor. Und damit ist vor allem eins sehr richtig: Es war ein gezielter Anschlag auf Jüdinnen und Juden. Alle anderen, die dieser Religionsgemeinschaft nicht angehören sind zunächst nicht direkt und persönlich betroffen. Da sich das Ganze in Deutschland abspielt, hat das auch historisch betrachtet eine herausgehobene Bedeutung. Obendrein, weil gezielt der Tag gewählt wurde an dem Menschen jüdischen Glaubens den höchsten Feiertag begehen: Das Versöhnungsfest Jom Kippur.
Für Jüdinnen und Juden ist Bedrohung und Verfolgung Alltag. Auch in Deutschland. Dass Polizeiautos vor Synagogen stehen, heißt – positiv gedeutet – dass die Menschen, die sie aufsuchen, besonders geschützt werden. Es heißt aber eben auch, dass sie nach wie vor besonders bedroht sind, wenn sie öffentlich sichtbar werden, zum Beispiel indem sie eine Synagoge betreten, zumal für einen Feiertag entsprechend festlich gekleidet und damit deutlich als Jüdinnen und Juden zu erkennen.
Wir werden in aller Regel auch heute noch in unsere Religion hineingeboren werden. Wir suchen uns unsere Konfession nicht aus. Und selbst, wenn wir das später einmal tun sollten: Es ist gar nicht so einfach, einer anderen Religionsgemeinschaft beizutreten. Was die Situation aber so speziell macht: Im Falle der Juden hätte – historisch betrachtet – selbst das übertreten in eine andere Religion keinen Schutz geboten. Während des Nationalsozialismus war es völlig egal, ob jemand den jüdischen Glauben praktizierte oder nicht. Es reichte, jüdisch geboren zu sein, um der Vernichtung zugeführt zu werden. Und ja, das klingt technisch. Aber genau so haben es die Nazis gemacht. Technisch. Ohne jede menschliche Regung. Weil es genau darum ging, Jüdinnen und Juden das Menschsein abzusprechen. Qua Geburt. Und das gleiche galt für Halbjuden und Vierteljuden. Es gab sogar Überlegungen, was wohl anzustellen sei mit Menschen, bei denen auch nur ein Großelternteil jüdischen Glaubens war.
Wer im Falle dieses versuchten Attentats von Halle glaubt, eine Bedrohung aller Menschen mit einem „Wir“ konstruieren zu können, verkennt die Besonderheit der Bedrohung, der sich jüdische Menschen gegenübersehen: Sie ist existentiell. Beim rechtsextremen Antisemitismus geht es um die radikale Vernichtung. Das betrifft nicht die ganze Gesellschaft. Das betrifft einzig und allein Jüdinnen und Juden. Und das muss auch als solches anerkannt werden.
Nur: Es hört an dieser Stelle nicht auf. Antisemitismus ist ein Teil von Rechtsextremismus. Aber nicht der einzige Teil. Rechtsextremismus ist eine Ideologie der Ausgrenzung, des Hasses und der Vernichtung wie auch Natascha Strobl in einem Tweet treffend zusammenfasst. Ein Hass, dessen Objekte durchaus austauschbar sind.
Dem Attentäter von Halle war es schlicht egal, wen er mit seinem Hass trifft. Sein Ziel war es, zu töten. Der im Zuge seines Hasses durchgeführte Angriff auf den Döner-Imbiss in Halle war auch antimuslimischer und rassistischer Natur. Und ich finde deshalb, dass jetzt zurecht Muslima und Muslime darauf verweisen, dass das aktuell untergeht. Und dass weit weniger darüber gesprochen wird als über die antisemitische Natur des Angriffes. Und ja, man kann die unterschiedliche Qualität der Betroffenheit anerkennen und trotzdem nicht vergessen, dass eben auch Menschen muslimischen Glaubens angegriffen wurden.
Das Perfide ist: Es war gerade kein muslimischer Feiertag. Und es ist auch schwierig, zeitgleich vor einer Synagoge seine Solidarität zu bekunden UND in einer Moschee zu sein. Der Döner-Imbiss steht auch nicht tagtäglich unter Polizeischutz. Was nicht heißen soll, dass Muslime und Muslima in Deutschland nicht bedroht seien von Rechtsextremisten. Spätestens seit den Morden der NSU sollten wir alle uns darüber bewusst sein, wie groß die Gefahr ist. Und erst Anfang dieser Woche wurden in Zwickau Gedenkstellen für die Opfer des NSU geschändet. Wäre ich muslimischen Glaubens – ich würde mich bedroht fühlen.
Und hier gerate ich bereits beim Schreiben in ein Dilemma: Zu welcher Religionsgemeinschaft äußere ich mich zuerst? Wie intensiv gehe ich auf die jeweilige Bedrohung ein? Wie gut kenne ich mich mit der Historie der jeweiligen Religionen aus? Was sagt das über mich und mein Weltbild aus? Wie fühlen sich die Menschen, die direkt betroffen sind, dadurch wahrgenommen? Wie kann ich im Denken und Sprechen die Gleichzeitigkeit darstellen, wenn es in der jeweiligen Ausdrucksform eben nur ein Nacheinander geben kann. Während ich fühlend durchaus Gleichzeitigkeit empfinde. Es ist im Prinzip kaum möglich, allen im gleichen Maße gerecht zu werden, die bedroht und betroffen sind.
Und das nächste Dilemma ist eines der Gemeinsamkeit. Ja, es ist wichtig, die einzelnen betroffenen Gruppen zu benennen. Und die besondere Art der Betroffenheit auch anzuerkennen und zu benennen. Aber das führt eben zu Separation und Vereinzelung. Und genau das will ich nicht.
Ich will nicht WIR sagen, um zu sagen, dass ich persönlich genau so betroffen bin, wie Jüdinnen und Juden, Muslima und Muslime, Homosexuelle und Transpersonen, Black Indigenious People of Color (BIPoC), Menschen mit einer Migrationsbiografie, Menschen mit physischer und psychischer Behinderung, Menschen, die den fahrenden Völkern angehören … denn im Gegensatz zu allen genannten Gruppen habe ich ein Privileg: Ich kann mir meine Haltung, Position und damit die verbundenen Bedrohungen im Prinzip aussuchen. Ich bin nicht bedroht, weil ich qua Geburt ein Merkmal besitze, das Rechtsextreme dazu nutzen, mich von der Gesellschaft auszuschließen. Ich besitze nicht qua Geburt ein Merkmal, durch das ich ständig diskriminiert werde, wenn man mal davon absieht, dass ich weiblich bin. Aber da habe ich immer noch das Privileg, das benennen und auf den Tisch hauen zu können, wenn ich das unfair finde.
Ich will wir sagen, weil all die Menschen, die ich aufgezählt habe, zeigen: Am Ende sind wir eben doch eine Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft aus einzelnen Gruppen, die am Ende ein Wir bilden. Wir alle gehören zu dieser Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die sich in ihrer Mehrheit dem Grundgesetz verpflichtet fühlt. Einem Gesetz, nach dem alle Menschen gleich sind an Rechten und Pflichten. Die Pflicht sehe ich darin, dafür zu sorgen, dass alle Menschen frei und gleich von ihren Rechten Gebrauch machen können. Und eben nicht nur einige wenige sich das Recht unter den Nagel reißen dürfen, die sich irgendwie in ein rechtsextremes Weltbild quetschen, weil es ihnen das Gefühl vermittelt, wer zu sein. Wichtiger und besser zu sein als alle anderen.
Wenn wir die Wahrnehmung von Rechtsextremismus auf Antisemitismus beschränken, dann marginalisieren wir die Gefahr, die diese Ideologie für ein freies, friedliches Zusammenleben aller Menschen in dieser Demokratie darstellt.
Wenn wir Rechtsextremismus synonym für Rassismus verwenden, marginalisieren wir die Gefahr, die diese Ideologie für ein freies, friedliches Zusammenleben aller Menschen in dieser Demokratie darstellt.
Ich beschäftige mich jetzt seit fünf Jahren wirklich intensiv mit dem, was Nationalsozialismus in den 30er Jahren bedeutet hat. Als Enkelin eines katholischen Widerstandskämpfers, der von den Nazis ermordet wurde, weil er das Gebot der Nächstenliebe über alles gestellt hat.
Mich persönlich macht das zu gar nichts. Versteht mich nicht falsch. Aber ich habe mich intensiv mit der Arbeit beschäftigt, die mein Großvater geleistet hat. Ich habe dadurch Einblick in viele Lebensbiografien bekommen. Lebensbiografien von Jüdinnen und Juden, von Kommunistinnen und Kommunisten, von Jugendlichen, von Homosexuellen – auch von homosexuellen Nazis. Von Rechtsextremismus ist eine Gesellschaft als Ganzes bedroht. Immer. Aber es gibt Unterschiede in der Qualität der Bedrohung und die sollten nicht klein geredet, sondern als solche anerkannt werden.
Wenn es aber darum geht zu sagen, dass unsere Gesellschaft durch Rechtsextremismus bedroht ist, dann möchte ich WIR sagen. Laut. Und zwar nicht als ich und ihr in meiner Welt. Sondern als WIR einer Gruppe von Menschen mit den unterschiedlichsten Lebensbiografien in einer Welt, von der wir gemeinsam wollen, dass sie allen, die sich diesen friedlichen, demokratischen Grundwerten verschreiben ein möglichst gutes Zusammenleben ermöglicht. Was nicht heißt, dass es keine Konflikte gibt. Es heißt nur, dass wir alle uns bemühen, diese Konflikte friedlich zu lösen.
Den heutigen Zustand zu erreichen hat zahllose Menschenleben gekostet. Angefangen mit der Aufklärung und der französischen Revolution über die Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges bis zur Finsternis der nationalsozialistischen Diktatur. Dass wir in der Form WIR sagen können, ist keine Selbstverständlichkeit. Das wurde hart erkämpft. Und es braucht den Zusammenhalt aller, die dafür sorgen wollen, dass das so bleibt. Und zwar nicht nur hier in Deutschland.
An dieser Stelle möchte ich ganz unbedingt auch noch den Blogeintrag von Juna Grossmann empfehlen, der kurz nach diesem Eintrag veröffentlicht wurde:
Comments by Frau Nora
„Ich hab mich durch die Depression selber kennengelernt“
"Vielen Dank für die Wertschätzung. Und auch fürs Teilen..."
„Eine Depression ist ’ne sehr, sehr einsame Kiste“
"Liebe Julie, vielen Dank für deine Nachricht. So schlimm..."
„Wir versuchen trotzdem den Schülerinnen und Schülern ein Stück Normalität zu geben.“
"Liebe Anne, ganz herzlichen Dank für deine wertschätzende..."
„Eine Depression ist ’ne sehr, sehr einsame Kiste“
"Liebe Svea, vielen Dank für deinen lieben Kommentar. Ich..."
„Eine Depression ist ’ne sehr, sehr einsame Kiste“
"Liebe Viktoria, ganz herzlichen Dank dir für deine nette..."