„Kein Mensch lebt rein im Internet“

Nadia Zaboura ist Linguistin und Kommunikationswissenschaftlerin. Studiert hat sie an der Universität Duisburg-Essen, der dafür „wirklich allerallerbesten Uni“, sagt Nadia Zaboura, „weil sie damals einen interessanten Zuschnitt hatte“, – von Medienwissenschaften über Soziologie und Semiotik bis hin zu Anthropologie. Heute arbeitet sie als Politik- und Kommunikationsberaterin mit Fokus auf den Themen Digitalisierung, Demokratie und Bildung. Darüber hinaus steuert sie als Fach-Moderatorin regelmäßig Diskurse rund um Künstliche Intelligenz, Jugendbeteiligung, Medien und Innovation.

Außerdem ist sie Gutachterin des Bundesforschungsministeriums sowie Evaluatorin der Europäischen Kommission für das Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 im Bereich Social Innovation. Seit mehreren Jahren ist sie Program Advisor der re:publica sowie Mitglied des Kuratoriums des Grimme-Forschungskollegs für Medien und Gesellschaft im digitalen Zeitalter. 2019 wurde sie zur Juryvorsitzenden des Deutschen Radiopreises berufen.

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Obwohl Nadia Zaboura Linguistik und Kommunikationswissenschaften studiert hat, wird sie erstaunlich oft für eine Naturwissenschaftlerin gehalten. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Dinge gerne analytisch angeht. Fragend. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie schon immer auch fasziniert auch von anderen Bereichen der Wissenschaft fasziniert war. Den Neurowissenschaften zum Beispiel.

„Warum verstehen wir uns eigentlich? Ist da nicht eine ganz verrückte Geschichte? Wir verständigen uns mit völlig zufällig gewählten Zeichen.“

Nadia Zaboura

Eine ihrer Kernfragen ist zum Beispiel: Weshalb und wie funktioniert Kommunikation zwischen uns Menschen? Wie erlangen wir die Fähigkeit, uns trotz verschiedener Zugänge, über Sprachgrenzen hinweg und mit Blick auf komplexe Sachverhalte darauf zu einigen, dass wir sie grundsätzlich ähnlich wahrnehmen und diese Wahrnehmung miteinander teilen? Zu diesem Thema, nämlich Intersubjektivität und Spiegelneurone, hat sie ihre Abschlussarbeit geschrieben.

„Ich arbeite am liebsten interdisziplinär mit vielen verschiedenen Stimmen, vielen verschiedenen Perspektiven.“

Nadia Zaboura

Wer Nadia Zaboura in kommunikativer Aktion erleben möchte, kann das neben ihren Fach-Moderationen vor allem auf Twitter. Und ja, das ist eine Plattform, die nicht unproblematisch ist. Denn wenn Menschen dort Hass, Rassismus und Misogynie erleben, müssen wir das thematisieren. Und auch die Frage, welche Auswirkungen die Bauweise digitaler Plattformen und die dahinterliegenden ökonomischen Interessen auf unsere Kommunikation haben, müssen wir uns stellen.

Darüber hinaus lässt sich auf der Plattform durchaus auch Tiefe finden. Nadia Zaboura nutzt Twitter vor allem als ein Medium der Interaktion. Damit das funktioniert, ist es natürlich notwendig, sich selbst dort ein Netzwerk aufzubauen, das einem Inspiration bietet, sprich Menschen zu folgen, die in der Wissenschaft und allgmein der Wissensvermittlung tätig sind, die Fachkenntnis besitzen und diese gerne diskutieren. Mittels Fragen und im Dialog entwickelt sie dann gemeinsam mit ihren Gesprächspartner:innen Themen, die auf einer breiten Palette gesellschaftlich relevant sind.

„Twitter ist für mich eine Oberfläche, in der ich Tiefe finden kann.“

Nadia Zaboura

Kurz bevor wir diesen Podcast aufgenommen haben, hat sich Nadia Zaboura zum Beispiel an einer Diskussion unter Jurist:innen beteiligt. Es ging darum, was eigentlich unter juristischer Sichtweise geschützt wird oder: geschützt werden sollte wenn Menschen Opfer von Hass im Netz werden. Konkret ging es in der Diskussion darum, ob und wie psychische Schäden bemessen werden können, also in wieweit die Perspektive der Geschädigten in der Rechtsprechung berücksichtigt wird. Denn darüber wird laut Diskussionspartner aktuell im Berufsstand diskutiert.

Im Digitalen funktionieren kommunikative Mechanismen des Hasses nochmal anders. Zurück bleiben teils massiv bedrohte und beschämte Menschen. Aber es wird auch sichtbar, dass solche Hass-Angriffe immer häufiger auch auf Widerspruch treffen. Einerseits, weil Menschen lernen, dass sie sich durch die Vielzahl unterschiedlicher kommunikativer Attacken nicht von ihren Themen, von ihrer Aufmerksamkeit ablenken lassen wollen und immer wieder auf das Inhaltliche verweisen. Und andererseits, weil Menschen neue Wege finden, sich im Digitalen solidarisch zu zeigen, mit- und füreinander einzustehen. Ein großes Forschungsfeld, nicht nur, aber vor allem für eine Linguistin und Kommunikationswissenschaftlerin wie Nadia Zaboura.

„Ich sehe jeden Tag tausend Forschungsfragen anhand von ganz konkreter Kommunikation.“

Nadia Zaboura

In ihr Netzwerk investiert Nadia Zaboura Zeit. Nicht nur bei der Auswahl derjenigen, denen sie folgt. Auch die Profile, die ihr folgen, schaut sie sich genau an,– und sortiert nötigenfalls aus. Sie prüft, dass diejenigen, die ihr folgen, in aller Regel reale Personen sind und nicht etwa Bots oder Fake-Profile. Sofern sich das eben ausschließen lässt (zum Thema Realfakes gibt es hier sehr viele nützliche Informationen). Kuratieren in beide Richtungen also. Zu den Menschen, denen Nadia Zaboura folgt als auch zu ihren Follower:innen gehören so Wissenschaftler:innen, Expert:innen aus Politik, NGOs und Wirtschaft, aber natürlich auch Medienschaffende, national wie international,

Nadia Zaboura sagt mit Blick auf digitale Plattformen ganz klar: Mir geht es um Qualität und die Beziehung zu den Menschen dort. Und: Die Linguistin nutzt das Tool nicht nur zur Wissenserweiterung und zur öffentlich sichtbaren Diskussion, bei dem Mitlesende mitdenken und ihre eigenen Argumente schärfen können, sondern auch beruflich., Dabei macht sie transparent, an welchen Projekten sie arbeitet und welche Erkenntnisse sich daraus ergeben. Was man dort nicht finden wird, das sind Ausschnitte aus ihrem Privatleben. Mit anderen Worten: Sie ist auf einer fachlichen und persönlichen Ebene gerne ansprechbar auf Twitter, aber eben nicht auf einer privaten.

Soziale Netzwerke als Katalysator

Ebenfalls im Fokus ihrer Beobachtungen steht der soziale Umgang in digitalen Netzwerken. Die Plattformen wirken oft wie ein Brennglas, teils auch wie ein Katalysator für bestimmte Aspekte und Sachverhalte, die wir in der Gesellschaft verhandeln, sagt Nadia Zaboura. Deshalb sei es zum Beispiel wichtig auch forschend dort hinzuschauen, wo sich gerade große Gesprächsthematiken entfalten. und mit „groß“ ist nicht nur die reine Quantität an Tweets, an Interaktion gemeint). Besonders aufschlussreich sind gerade die Bruchstellen oder „Kanten“, denn sie öffnen den Blick darauf, was eigentlich in unserer Gesellschaft neu verhandelt wird.

„Ich bin dankbar für jede Kante. Weil jede Kante uns prinzipiell immer weiter bringen kann. Wenn – und hier kommt eine Einschränkung – die Kommunikation wirklich miteinander stattfindet und auch in verantwortungsvoller Art und Weise.“

Nadia Zaboura

Ein wirklicher Knackpunkt in dieser Kommunikation, an dem Nadia Zaboura auch ein großes Defizit festmacht, ist die Frage nach der Verantwortung in der Kommunikation, gerade auch die Verantwortung der professionell Kommunizierenden in sämtlichen Medien. Auch hier lohnt sich der analytische Blick: Wer spricht in welcher Art und Weise wie viel und über wen in der medialen Berichterstattung?

Dabei können öffentliche digitale Diskussionsflächen eine ideale Erweiterung für gesamtgesellschaftliche Diskurse sein, die in den „traditionellen“ Medien thematisiert oder auch vernachlässigt werden. So besteht für jede und jeden die Möglichkeit, sich im Netz in wenigen Klicks auch mit anderen Perspektiven auf eine Thematik vertraut zu machen – im Prinzip zeigt sich hier eine demokratisierende Entwicklung von Informationsabgabe, -aufnahme und -verhandlung. Der so genannten Filterblasen-Theorie (die im Übrigen aktuell wissenschaftlich nicht belegt ist, auch wenn einige Indizien darauf hinweisen mögen) kann Nadia Zaboura deshalb wenig abgewinnen, auch aus folgendem ganz lebenspraktischen Grund:

„Kein Mensch lebt rein im Internet.“

Nadia Zaboura

Filter in der eigenen Informationsaufnahme bestehen ohne Frage, diese sind jedoch kein reines Netzphänomen. Denn auch im realen Leben holen wir uns nur selten Menschen in unseren näheren Umkreis, mit denen wir uns so überhaupt nicht verstehen – Stichwort Homophilie. Aber wer erkenntnisoffen ist, der hat durch digitale Kommunikation und Plattformen deutlich gesteigerte Möglichkeiten, mit interessanten Perspektiven in Kontakt zu treten, miteinander zu lernen. Weil so viele Weltanschauungen und Perspektiven erstmals offen zutage treten, öffentlich verhandelt werden. Damit wir diese Diversität aber auch nutzen können, müssen die Plattformen allerdings gewisse Grundlagen und Formen, mittels derer wir kommunizieren, in besserer Form bereitstellen, sagt Nadia Zaboura.

Dazu gehört für sie, dass die Verfolgung strafrechtlich relevanter Inhalte durch reibungslose Unterstützung der Plattformen funktionieren muss oder sich zu Unrecht gesperrte Account-Inhaber direkt an z.B. Twitter wenden können – dazu müsse endlich eine deutsche Geschäftsadresse angeboten werden. Hier wurde und wird weiterhin Vertrauen von Nutzerinnen und Nutzern verspielt. Um das Vertrauen zurückzugewinnen, muss schnell aufgeholt werden, sagt die Sprachwissenschaftlerin. Ansonsten bleibt das Spielfeld asymmetrisch mit entsprechend starken Konsequenzen,

Jenseits dieser Probleme, die bei der Nutzung sozialer Netzwerke entstehen, bieten sie aber eben auch die Möglichkeit, viele und verschiedene Themen zu verfolgen oder überhaupt erst für sich zu entdecken – vom aktuellen Geschehen in Hong Kong, im Iran oder Brasilien über Live-Threads aus dem britischen Unterhaus und innerparteilichem Konfliktgebaren deutscher Parteien bis hin zum sensationell-langweiligen Account @UninterestingP4.

Wer sich aber die Arbeit macht und ein gutes Netzwerk aufbaut, kann wahnsinnig tolle Themen entdecken. Zum Beispiel Forschende, die über ihre Arbeit im Nordpolarmeer berichten. Oder auch Krankenschwestern und Pfleger, Hebammen und Ärzt:innen, die unter dem Hashtag #twankenhaus eine neue Revolution, ein Update des Gesundheitswesens starten. Da finden und aktivieren sich also Gemeinschaften, die sich im Analogen so nicht gefunden hätten. Und Nadia Zaboura verweist auch auf die vielen Nutzer:innen, die mitlesen, aber eben nicht selbst sichtbar oder aktiv werden.

Das Privileg, verschiedene Kulturen zu kennen

Die Frage ist allerdings, ob Nutzerinnen und Nutzer nicht bereits eine gewisse Neugier und Offenheit mitbringen müssen, um eben Twitter oder andere soziale Netzwerke derart zu nutzen. Schließlich stehe es jedem frei, das Digitale so zu nutzen, wie es den persönlichen Bedürfnissen entspricht, betont Nadia Zaboura. Sie selber hat die Offenheit mit in die Wiege gelegt bekommen, sagt sie. Ihre Eltern stammen aus zwei verschiedenen Kulturkreisen, sie lebt als Deutsche im Prinzip im dritten Kulturkreis – und alle Kreise überlappen sich, verändern sich, interagieren miteinander. Das empfindet sie als Privileg. Denn von klein auf ist sie mit vielfältigen Perspektiven auf die Welt in Berührung gekommen.

„Das ist ein Privileg. Ich denke, dass sich sehr viele Menschen nicht darüber bewusst sind, wie besonders es ist, wenn man zweisprachig aufwachsen darf oder sogar vielsprachig.“

Nadia Zaboura

Nadia Zaboura ist mehrsprachig aufgewachsen (neurophysiologisch betrachtet übrigens hoch interessant). Aber selbst, wenn neben der Muttersprache keine weitere Sprache dazukommt, sei es schon etwas Besonderes, andere kulturelle Erfahrungen machen zu dürfen. Das könne auch dazu führen, dass man mehr von der Welt sieht, einfach weil der Blick für die Welt bereits offener ist. Im Prinzip Voraussetzungen, die ideal für den journalistischen Beruf sein können, sagt Nadia Zaboura. Aber genau dort sind Menschen, die eine diverse kulturelle Prägung haben, unterrepräsentiert. Das ist natürlich nicht die einzige Qualifikation. Das klassische journalistische Handwerk gehöre zwar unbedingt zum Journalismus dazu, sagt die Sprachwissenschaftlerin. Aber eben auch eine gewisse Offenheit und die Fähigkeit, sich in verschiedene Perspektiven hineindenken zu können, sich darüber Themen zu erschließen, die nicht aus dem eigenen Milieu, dem eigenen Erlebnishorizont stammen. Und diese angemessen abzubilden und zu besprechen.

„Die Frage ist: Wie gehe ich mit Dingen um, die nicht meinen Erfahrungen, meiner Erfahrenswelt entsprechen?“

Nadia Zaboura

Was Nadia Zaboura in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist: Menschen können sich aus ganz verschiedenen Gründen anders fühlen. Fremdheitserfahrungen machen nicht nur Menschen, die aus einem anderen Kulturkreis stammen. Arbeiterkinder, die den Aufstieg in Akademikerkreise schaffen, kennen dieses Fremdheitsgefühl genauso, wie die vielen Menschen, die sich mit dem Fall der Mauer plötzlich in einer westdeutschen geprägten Gesellschaft wiedergefunden haben, die zu großen Teilen weder Ahnung von noch Interesse an ihrer bisherigen Lebenswelt und -erfahrung zeigte.

Erfahrungen, die aktuell wieder zahlreich in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Zum Beispiel unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre, das vom Journalisten Christian Bangel ins Leben gerufen wurde. Da sprechen aktuell all diejenigen, die in den 90ern – also nach dem Mauerfall – von Neonazis als anders deklariert wurden und deshalb gejagt und verprügelt worden sind. Wir haben da im Podcast zwar nicht explizit drüber gesprochen, waren uns danach aber beide einig, dass das unbedingt erwähnenswert ist – wie so vieles weitere.

Verunfallte Kommunikation in sozialen Netzwerken

Das Spannende an diesen Diskussionen im Netz ist: Auch Organisationen, die im Social Web präsent sind, hätten die Chance, Diskussionen zu verfolgen und sich aktiv einzubringen. Auch hier muss allerdings der Rahmen stimmen. Es bestehen viele Stolperstellen: von nicht geschultem Personal über schlicht zu wenig Personal bis hin zu einer reinen Sendestrategie, die gar nicht auf Kommunikation abzielt. Jüngstes Beispiel: Die Medientage München. Dort wurde ein Podcast-Panel vorgestellt mit dem Titel „Podcaster unter sich“ – auf der Bühne: Vier Männer und ein Moderator. Auf den Hinweis, dass die Zeit für „all male panels“ mit rein männlicher Besetzung jetzt doch mal langsam vorbei sein müsste, kam als Antwort, man habe keine Frau gefunden oder nur Absagen erhalten.

Eine über Twitter initiierte Umfrage unter Podcasterinnen aus Bayern hat ergeben: Allzu viele von ihnen hatten dann doch keine Anfrage erhalten. Auf weitere Anmerkungen von Nutzer:innen wurde nicht eingegangen. Das Podcast-Label „Kugel und Niere“ hatte daraufhin angeboten, statt Christian Alt eine der beiden Geschäftsführerinnen Elisabeth Veh oder Anna Bühler zu entsenden. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Daraufhin haben Kugel und Niere ihre Teilnahme am Panel abgesagt und darauf hingewiesen, in Zukunft nicht mehr an ausschließlich männlich besetzten Panels teilzunehmen.

Nadia Zaboura wünscht sich, dass in einem bald beginnenden Jahr 2020 Multiperspektivität schlicht zum Eigenanspruch von Veranstaltenden gehört. Denn mehr Frauen auf die Podien zu holen, ist nur ein erster kleiner Schritt: Es gilt auch, die Stimmen auf den Podien diverser zusammenzusetzen – und da ist aktuell noch ganz schön viel Luft nach oben.

„Das geht raus an alle Veranstalter: Macht euch die Mühe einmal rauszugucken und vielleicht auch einfach aufzurufen und bei speakerinnen.org zu gucken.“

Nadia Zaboura

Es wäre einfach gewesen – für die Menschen hinter dem Social Media Account wie für die Veranstaltenden – mit dieser Situation wertschätzend und transparent umzugehen. Das ist an der Stelle leider nicht geschehen. Was bedauerlich ist.

Ein weiteres Beispiel für die oft asymmetrische Kommunikation in sozialen Netzwerken ist die Herausstellung des Journalisten Sebastian Pertsch durch einen Blogger, der auch als Kolumnist für ein sehr bekanntes, reichweitenstarkes deutsches Medium schreibt. Pertsch befand sich unmittelbar danach tagelang im Fokus der rechten Szene auf Twitter.

Interessant ist dabei sein Umgang mit massiven Hass-Attacken, Bedrohung und Hetze. Wo andere ihren Account zwangsgedrungen auf privat schalten, hat Sebastian Pertsch für sich einen anderen Weg gewählt: Jeder unsachliche Kommentar wurde mit einem simplen Schimpfwort quittiert. Zum Beispiel „Trottel“. Eine Interaktion hat der Journalist damit abgelehnt und gleichzeitig eine einfache und klare Grenze aufgezeigt. Im Prinzip ein großes Stop-Signal, das ohne jede Rechtfertigung auskommt. Verbunden mit einer Haltung, bei der den Journalisten viele der Kommentare schlicht amüsiert haben, so ein weiterer Tweet.

So cool können allerdings nicht alle Menschen reagieren, die plötzlich im Zentrum von Hass-Angriffen im Sekundentakt stehen. Das liegt laut Nadia Zaboura häufig auch daran, dass Menschen aus gesellschaftlich marginalisierten Gruppierungen teils eine längere Historie von Angriffen erlebt haben, die in aller Regel auch seelische Verletzungen nach sich gezogen haben. Nicht jede:r kann vor diesem Erfahrungshorizont mit Gelassenheit mit dieser Art von Aggression und persönlichen Attacken umgehen.

Neue Strukturen der Solidarität und demokratischer Bildung

Wenn wir von Hatespeech und Gewaltandrohungen in sozialen Netzwerken sprechen, befinden wir uns übrigens in einem Dilemma: Denn jede Reaktion verstärkt im Prinzip die Botschaft. Egal in welcher Form. Widerrede ist aber trotzdem nötig, wenn sich Hass nicht potenzieren soll. Das heißt die Struktur der Plattformen wird zum Problem für eine gelingende Kommunikation, – nämlich wenn letztere die aktiv und mutwillig negativ gestört wird oder ganz unterbunden werden soll.

„Die Frage ist: Wie gehen wir damit um? Wie zeigen wir uns gegenseitig Solidarität?

Nadia Zaboura

Aber: Wir haben inzwischen auch gelernt, auf diese Hasswellen zu reagieren. Nadia Zaboura beobachtet, dass sich unter den Posts und Tweets, in denen Menschen öffentlich machen, dass sie angegriffen wurden, ein neues Muster entwickelt: viele Menschen versammeln sich und kommentieren, um ihre Solidarität und ihren Beistand zu bekunden. Und das teils massenhaft.

Was sich daran laut Nadia Zaboura aber auch zeigt: Es ist aktuell nicht möglich, um Betroffene herum eine Art Schutzwall zu bauen. Und auch, wenn es wünschenswert wäre, dass Plattformen und soziale Netzwerke mehr Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten bieten: Sie sind und bleiben kommerziell agierende Unternehmen, denen es freigestellt ist, wie sie Kommunikation organisieren, bündeln und sanktionieren. Und so wundert es nicht, dass es Nutzer:innen bei Twitter & Co. fast unmöglich ist, Inhalte adäquat zu melden: Der Meldeprozess sowie die Formulare, die bei Verstößen ausgefüllt werden müssen, sind weder nutzer:innenfreundlich noch für Nicht-Juristen angemessen verständlich. Und auch die gefällten Entscheidungen über gemeldete Tweets und Nutzer:innen wirken regelmäßig inkonsistent und widersprüchlich.

Unbestritten bleibt, sich mit Opfern von Angriffen zu solidarisieren. Das gilt im Übrigen nicht nur für soziale Netzwerke, sondern auch im analogen Leben. Denn auch dort gibt es immer wieder Angriffe auf marginalisierte Menschen oder Menschen, denen von außen eine Andersartigkeit aufgedrückt wird. Zum Beispiel, weil sie dunkle Haare haben. Im Analogen gelingt es ganz gut, einen Schutzraum um Betroffene zu bilden, indem sich Nichtbetroffene dazwischen stellen. Das heißt, sie sprechen die angegriffene Person ruhig an, verwickeln sie in ein Gespräch – und blenden damit die angreifende Person aus. Das funktioniert in der Praxis recht gut.

„Man muss es machen. Man muss sich überwinden in dem Moment. Das sollte viel stärker zur Bildung mit dazu gehören.“

Nadia Zaboura über Zivilcourage

Zum Themenkomplex Bildung, Demokratie und Digitalisierung, in dem Nadia Zaboura seit vielen Jahren aktiv ist, gehören auch solche Thematiken: Vermittlung demokratischer Bildung, Unterstützung und Weiterentwicklung Demokratie-sichernder Strukturen, Herstellen von Chancengerechtigkeit. Ein Ideal, das in der Realität einfach sehr schwer zu erreichen ist. Trotzdem dürfen wir nicht aufhören, daran zu arbeiten, findet die Linguistin. Ein Bundesprogramm, das sich damit beschäftigt, ist zum Beispiel „Demokratie leben“ vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), unter dem in den letzten Jahren verschiedenste Projekte gefördert wurden. Solche Initiativen sind nach wie vor unerlässlich für diese Gesellschaft.

Das Schwierige: Die Projekte, die oft klein sind, bei denen aber Personen mit großer Expertise arbeiten, werden nicht kontinuierlich finanziert. Die Gelder müssen auf Projektbasis in regelmäßigen Abständen neu beantragt werden. Dabei werden nur Modellprojekte gefördert, die innovativen Charakter besitzen. Das Programm wurde 2019 neu ausgerichtet. Es wurde zwar letztendlich entschieden, dass es weiter geführt wird, aber rund 134 Demokratie-Initiativen sind in dieser Runde nicht für eine Förderung angenommen worden. Bei diesen Projekten weiß niemand so richtig, wohin die Netzwerke, das Wissen, aber vor allem auch das mit der Zeit aufgebaute Vertrauen versickern. Dabei besteht großer Bedarf, genau solche Strukturen nachhaltig aufzubauen, sagt Nadia Zaboura. Dazu gehört eine langfristig gesicherte Finanzierung, beispielsweise durch das aktuell diskutierte Demokratiefördergesetz.

„Ich stelle die Frage: In wie weit wäre es möglich, dass wir junge Menschen noch viel aktiver in die Demokratie mit einbinden?“

Nadia Zaboura

Zu Demokratie und Demokratiebildung gehört es aber auch, junge Menschen aktiv Teil am demokratischen Prozess werden zu lassen, findet Nadia Zaboura. Wir müssen uns die Frage stellen, inwieweit wir das ermöglichen oder sogar verhindern. Das hat auf der einen Seite mit aktuellen Machtstrukturen zu tun und auf der anderen Seite mit – leider mangelnder – Wertschätzung gegenüber dem politischen Gestaltungswillen junger Menschen, deren Zukunft jetzt entschieden wird in einer zunehmend alternden Gesellschaft.

Das EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“

Dieser letzte Abschnitt hier ist für alle Wissenschaftler:innen, die sich für interdisziplinäre und europäische Forschungsprojekte interessieren. Der aktuelle Call für das Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“ sucht nach Projekten zum Thema „Social Innovation“. Das Programm richtet sich vor allem an Wissenschaftler:innen, aber mit der Bedingung, dass sich Forschende aus verschiedenen europäischen Ländern miteinander verbinden. Oftmals muss in den Konsortien explizit auch die wirtschaftliche und gesellschaftliche Komponente abgebildet sein. Aus diesem Grund sind auch NGOs oder Bürgernetzwerke mit involviert, Start-ups oder Kreativschaffende, die in kleineren Strukturen arbeiten.

„Diese Forschungsverbünde sind sehr interdisziplinär aufgesetzt. Nicht nur, was das Land angeht, sondern eben auch von den Hintergründen.“

Nadia Zaboura

Bewerben kann man sich mit einem so genannten Proposal (inzwischen geht das komplett papierlos, nämlich online). Solche Proposals sind allerdings recht aufwändig, je nach Call. Für Einsteiger ist es sinnvoll, sich anfangs als Juniorpartner an Projekt anzudocken, um die Abläufe und Logiken von Horizon 2020 zu verstehen und umzusetzen. Das wirklich Reizvolle an diesem Rahmenprogramm für Forschung und Innovation mit seinen rund 80 Milliarden Euro Budget ist das ungeheure, interdisziplinäre Wissen, das dort gesammelt werden kann. Und als Evaluatorin ist es für Nadia Zaboura sehr spannend, sich prüfend durch die Proposals zu arbeiten. Denn hier bekommt sie einen Einblick in das, welche Fragen die Forschung in naher bis mittelbarer Zukunft auf die großen Entwicklungen unserer Zeit entwickelt – und welche evidenz-basierten Maßnahmen wir jetzt schon einleiten, um darauf zu reagieren.

Diese Form von „Foresight“ wünscht sich Nadia Zaboura auch mehr in der aktuellen Politik. Es geht schließlich nicht nur darum, den Ist-Zustand zu verwalten, sondern schon jetzt die Weichen für das zu stellen, womit wir uns in Zukunft als Gesellschaft konfrontiert sehen. Dazu gehört beispielhaft, sich mit der Entwicklung in ländlichen Gebieten auseinanderzusetzen: Wie wird es dort in 20, 30 oder 40 Jahren aussehen, wenn wir schlicht so weiter machen wie bisher. Was müssten wir heute tun, um eine andere, wünschenswertere Entwicklung steuern zu können? Was wünschen wir uns überhaupt für eine Entwicklung in diesen Regionen, zu Themen wie Landflucht, Arbeitsplätze, medizinische Versorgung oder Bildung?

„Da gibt es wahnsinnig große Fragestellungen, die für uns hoch relevant sind, weil sie auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Frieden in dieser Gesellschaft betreffen.“

Nadia Zaboura

Es geht darum, soziale Zufriedenheit langfristig zu sichern. Denn soziale Zufriedenheit ist eine Grundbedingung für politische Zufriedenheit. Wer politisch unzufrieden ist, bei dem wird nicht nur Wut sichtbar, sondern auch ganz konkrete Ängste vor der Zukunft. Es geht aber nicht nur darum, in der Politik nach Lösungen zu suchen, sondern auch Möglichkeiten zu finden, sich persönlich einzubringen.

„Es gibt ja Bürgerrechte und Bürgerpflichten. Und es wäre ja auch sehr schön, wenn wir nicht nur an die Pflichten denken, sondern auch an die Rechte, die uns zustehen (…)“

Nadia Zaboura

Dabei bestehen bereits – um beim oben genannten Beispiel zu bleiben – durchaus breit angelegte Forschung und Projekte, die sich mit dem ländlichen Raum und seiner Zukunft beschäftigen. „Es passiert unglaublich viel“, sagt Nadia Zaboura. Hier könne auf Seiten von Wissenschaft und Politik aber noch stringenter kommuniziert werden und: Bürgerinnen und Bürger könnten noch besser mit eingebunden werden in das, was diskutiert wird – damit sie sich wahrgenommen und wertgeschätzt fühlen. Wertschätzung und Transparenz als Basis einer funktionierenden Demokratie.

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