„The holocaust didn’t come out of nowhere.“

Nikki Marczak ist Genozid-Forscherin. Wenn sie davon erzählt, was sie macht, rümpfen die Menschen oft die Nase. Denn viele finden diese Forschungsgebiet durchaus morbide. Und, ja, oft genug fragt Nikki Marczak sich auch selber, warum sie ausgerechnet dort forscht – in den Abgründen der menschlichen Existenz. Der Weg dahin war allerdings lang, sagt sie. Es war nicht eine Entscheidung, die dazu geführt hat, es war mehr wie ein Pfad, der sie irgendwann dorthin geführt hat, wo sie jetzt ist.

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Nikkis Marczaks ist Nachfahrin von Überlebenden des Holocaust und der NS-Verfolgung. Und das war auch das Thema der Konferenz, auf der ich Nikki Marczak im April 2018 zum ersten Mal getroffen habe. Es ging um die Aufgabe, die Nachfahren in der Erinnerungskultur übernehmen können und ob sie das überhaupt müssen. Nikki Marczak hat eine Aufgabe in dieser Erinnerungskultur übernommen, aber zunächst hat sie sich gar nicht mit der eigenen Geschichte beschäftigt.

Schon als Kind hatte Nikki Marczak einen besonderen Sinn für Gerechtigkeit und Fairness. Und sie hat sich schon immer Gedanken gemacht über die Ungerechtigkeit, die es in der Welt gibt. Ihren Bachelor hat sie in Politikwissenschaften und Geschichte und Kultur der Aborigines gemacht. Der Genozid, der sie als erstes beschäftigt hat – einfach, weil ihr das als gebürtige Australierin viel näher lag. Danach hat sie für die Regierung gearbeitet und sich mit multikulturellen Fragen des Zusammenlebens beschäftigt. Erst danach hat sie angefangen, sich mit Genozidforschung zu beschäftigen. Ihr Hauptaugenmerk lag dabei auf den Forschungen zum Genozid an den Armeniern 1915 und 1916.

Danach hat Nikki Marczak ihre Aufmerksamkeit auf die Genozide der Gegenwart gerichtet und sich zum Beispiel intensiv der systematischen Verfolgung und Ermordung von Jesiden beschäftigt.

Erst im vergangenen Jahr hat sich Nikki Marczak dann intensiver mit dem Holocaust beschäftigt und so auch mit ihrer eigenen Geschichte. Eine persönliche Herausforderung, sagt die Genozidforscherin.

Schwieriger Prozess der Anerkennung von Völkermord

Im Gegensatz zum Holocaust sind die Genozide an den Armeniern oder der Genozid an den Jesiden nicht vollumfänglich anerkannt. In der Türkei gibt es ein Gesetz, dass es verbietet im Zusammenhang mit den Armeniern von Völkermord zu sprechen. Wer dagegen verstößt kann mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden. Für Opfer von Genoziden und deren Nachfahren ist die Anerkennung als Völkermord entscheidend, um Heilung zu finden, sagt Nikki Marczak und auch ein Gefühl von Gerechtigkeit zu haben. Das muss nicht unbedingt juristische Gerechtigkeit sein, auch wenn das natürlich ebenfalls willkommen wäre, aber wenigstens eine Form von Anerkennung durch die Verfolger.

„It’s crucial I think for the healing of communities that have been victims of genozide to have that sense of recognition and that sense of justice.“

Nikki Marczak

Das Schwierige im Bereich der Genozidforschung ist, dass es auch unter Forschern keine Einigkeit gibt, ob es sich um einen Genozid handelt oder um ein kriegsbedingtes Massaker. Und ja, das klingt so zynisch, dass ich das kaum hinschreiben oder aussprechen möchte, weil ich es ganz grundsätzlich grausam finde, wenn Menschen Gewalt angetan wird, erst recht, wenn das massenhaft passiert. Aber auf politischer Ebene hat genau diese Unterscheidung sehr unterschiedliche Auswirkungen für Opfer und Täter.

Der international rechtliche Standard, der für die Bestimmung eines Genozids verwendet wird, ist die UN Genozid Konvention, die den Genozid in einen rechtlichen Rahmen. Dabei geht es nicht notwendigerweise um das Ermorden von Mitgliedern einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, sondern auch darum, das zu zerstören, was diese Gruppe ausmacht. Das heißt, es gibt auch soziale und biologische Strategien, um bestimmte Bevölkerungsgruppen auszulöschen. Indem ihre Merkmale zerstört werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass der Gebrauch einer bestimmten Sprache verboten wird. Oder das Frauen und Männer zwangssterilisiert werden. Auch die Entführung von Frauen, wie im Fall der Jesidinnen gehört zu den Strategien, Versklavung, erzwungene Konvertierung oder Assimilation – also Strategien, die gesamte Struktur einer Gemeinschaft zerstören.

„Of course we see that in the holocaust as well. The Nazis did not only want to get rid of the jews, but also jewish culture, of what it meant to be jew and the whole history of jewish civilisation really.“

Nikki Marczak

Nikki Marczak warnt vor dem Gedanken, dass solche Grausamkeiten nicht in der eigenen Gesellschaft passieren können, weil etwas barbarisches oder unzivilisiertes darin liegt. Die Geschichte hat gezeigt. Es gibt keine bestimmten Merkmale, die eine bestimmte Gruppe anfälliger macht, einen Genozid zu verüben als eine andere. Aber es gibt Warnhinweise, bevor solche Grausamkeiten passieren. Etwas, mit dem sich Nikki Marczak in ihrem aktuellen Job beschäftigt. Denn seit Anfang 2019 arbeitet sie beim Asia Pacific Center for the Responsibility to Protect.

„The holocaust didn’t come out of nowhere. It was a process. All genocides are a process. And so we need to really be conscious of what those indicators are. If there is an increase in hate speech perhaps or incitement.“

Nikki Marczak

Es gibt durchaus anzeichen, die darauf hindeuten können, dass etwas passiert. Zum Beispiel ein Anstieg von Hassrede und Hetze nicht nur, aber auch in den sozialen Netzwerken. Aber auch andere Faktoren wie zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen. Vor allem, wenn sich diese Phänomene auf eine bestimmte Gruppe beziehen, bilden sie einen Kontext, der einen Genozid wahrscheinlich macht. Dahinter muss allerdings eine bestimmte Form von Maschinerie stecken und Menschen, die daran aktiv mitwirken. Was dann aber tatsächlich der Auslöser dafür ist, dass es zu Massenverfolgung und -vernichtung bestimmter Bevölkerungsgruppen kommt, darauf haben auch Forscher bis heute keine eindeutige Antwort.

Rolle Sozialer Netzwerke im Fall der Rohingya

Ein Faktor, der zumindest im Fall der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung eine Rolle spielt, ist die Organisation der Übergriffe über soziale Netzwerke wie Facebook. Für Nikki Marczak ist das ein Beschleuniger, aber keine Ursache. Für die systematische Verfolgung der Juden durch die Nazis hat es keiner digitalen sozialen Netzwerke bedurft. Der Genozid in Ruanda wurde durch Hetze im nationalen Radio vorangetrieben. Dort wurden die Aufenthaltsorte einiger Mitglieder der Tutsi öffentlich gemacht und Menschen dazu aufgefordert, diese Orte aufzusuchen und Tutsi zu ermordern. Einer der schnellsten Genozide der Geschichte, sagt Nikki Marczak.

Aber die Möglichkeiten, via sozialer Netzwerke Falschmeldungen zu verbreiten, Ressentiments zu schüren und bestimmte Aktionen zu organisieren haben sich durch soziale Netzwerke potenziert, sagt Nikki Marczak. Und auch Vorschlagsalgorithmen von Google oder Youtube könnten eine Rolle spielen, denn die merken sich, wonach jemand gesucht hat und bieten vor allem zuerst ähnliche Informationen an, bei denen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass sie die Vorlieben des Nutzers treffen. Andere Informationen sind natürlich weiterhin verfügbar und auffindbar, werden aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit auch angeklickt.

Das Asia Pacific Center for the Responsibility to protect, für das Nikki Marczak seit Anfang 2019 arbeitet, beschäftigt sich intensiv mit den ersten Anzeichen von organisierten Gewalttaten gegen Minderheiten. Es gibt einen Austausch über Methoden, wie solche Gräueltaten verhindert werden können. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Anstieg von Hate Speech und Hetze, auch, aber nicht nur in den sozialen Netzwerken.
Natürlich gibt es Überlegungen, wie viel einzelne Akteure im Netz tun können, um gegen Hetze und Hate Speech vorzugehen. Aber es kann auch schnell zu Überforderung kommen, wenn jemand Gegenrede hält und dann selber zum Ziel von Hass wird.

„Sometimes it’s not worth to get into those debates on social media. I feel that in some ways things like facebook actually just create further polarization between people and categorize people according to their ideologies. And then essentially people are just getting further apart.“

Nikki Marczak

Nikki Marczak ist auch nicht überzeugt davon, ob Gegenrede an der Stelle wirklich sinnvoll ist. Denn soziale Netzwerk sorgen auch dafür, dass Menschen sich weiter voneinander entfernen, weil wir sie kategorisieren und in Schubladen stecken.

Und natürlich besteht auch die Gefahr von Zensur und es stellen sich Fragen, welche Rolle Plattformbetreiber in diesem System spielen. Alles in allem eine schwierige Gemengelage. Und Nikki Marczak erinnert auch nochmal an den Attentäter von Christchurch, der Facebook genutzt hat, um seine grausame Tat möglichst weit zu verbreiten und so weltweit Aufmerksamkeit zu erlangen.

Es geht nicht allein darum, die Gefahren von sozialen Netzwerken zu beschwören. Aber was Falschmeldungen und die Organisation von Hass und Gewalt angeht, hat die Nutzung sozialer Netzwerke eine entscheidende Rolle gespielt. Falschmeldungen lassen sich wesentlich schneller verbreiten als vorher und sind nur sehr schwer wieder einzufangen.

Und sie machen Denkweisen sichtbar, die vorher im Verborgenen geblieben sind. Das gilt zunächst erstmal neutral für alle möglichen Denkweisen. So hat sich zum Beispiel das, was im Zusammenhang mit der #metoo-Debatte zu Frauenrechten entwickelt hat, weltweit verbreitet. Und überall auf der Welt haben Frauen verstärkt angefangen, sich für ihre Rechte einzusetzen und sie einzufordern.

Was bewirkt Erinnerungsarbeit?

Aber sie stärken und verbreiten eben genauso Gedankengut, dass sich jenseits humanistischer Werte und jenseits der Menschenrechte bewegt. Es zeigt sich, dass rassistisches, antisemitisches oder allgemein diskriminierendes Gedankengut weiter verbreitet zu sein scheint, als vorher angenommen. Zumindest ist es sichtbarer als vorher. Denn lange Zeit galten sie als absolut tabu.

Etwas, dass Nikki Marczak auf während ihrer Interviews mit Nachfahren von Nationalsozialisten in Deutschland festgestellt hat. Während es im Bereich der gesellschaftlichen Erinnerungskultur sehr viel Aufarbeitung gab, wurde in den Familien selbst weiter geschwiegen. Viele Nachfahren hatten zwar eine Ahnung davon, dass die Großeltern involviert waren. Aber was genau sie während des NS-Regimes gemacht hatten, darüber wurde einfach nicht gesprochen.

„Although Germany has done a lot of this memory work and has a very strong remembrance culture it wasn’t really talked about within the family and it was quiet suppressed.“

Nikki Marczak

Ein weiteres Tabu in Deutschland ist, die Kriegstraumata der Tätergeneration und ihrer Nachfahren zu thematisieren. Weil es einfach schwierig ist, das zu differenzieren. Natürlich können junge Menschen oder Kinder, die kurz vor oder während der NS-Zeit geboren wurden nichts für die Verfolgung und den Krieg durch die Nationalsozialisten. Und natürlich sind auch sie Opfer von Kriegsverbrechen. Aber so hart das an der Stelle ist, es ist etwas anderes, ob jemand Opfer eines Krieges geworden bist, weil er oder sie in Kriegszeiten groß geworden ist, oder ob jemand Opfer geworden ist aufgrund von Merkmalen wie Religion oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, wie etwa Sinti und Roma, Homosexuelle oder psychisch kranke Menschen.

Aber selbst das ist nicht immer so klar von einander zu trennen, erklärt Nikki Marczak. Bei ihren Interviews in Deutschland hat sie einen Mann gesprochen, dessen Großvater den Zeugen Jehovas angehört hat. Er wurde in Dachau inhaftiert und von den Nazis umgebracht. Sein eigener Sohn, also der Vater des Interviewten hingegen, hat nicht nur seinen Glauben abgelegt, sondern ist zu den Nazis übergelaufen und hat damit einen Beitrag zur Vernichtungsmaschinerie des NS-Systems geleistet.

„Some people have both victimhood and the status of a perpetrator in their own families. So they’re left in this place of: Where do I actually fit? And what does that mean for my own identity?“

Nikki Marczak

Manchmal, glaubt Nikki Marczak, ist es sogar einfacher zu den Überlebenden der NS-Verfolgung zu gehören, weil es eben die zusätzliche Ebene von Scham und Schuld nicht gibt, das viele Nachfahren von Tätern haben.

Vor einigen Jahren hat Nikki Marczak Rainer Höß interviewt, Enkel des Auschwitz Kommandanten Rudolf Höß. Er hat sein ganzes Leben lang damit gekämpft, wie er das schwere Erbe überwinden kann, das durch seinen Großvater mit seinem Namen verbunden ist. Nikki Marczak erlebt Rainer Höß als sehr ungewöhnlichen Mann, der offen darüber spricht, was sein Großvater getan hat. Mit der eigenen Familie kam es darüber zum Verwürfnis.

„Many members of his family still today identify with the Nazis.“

Nikki Marczak über Rainer Höß

Nikki Marczakt ist überzeugt, dass es auf vielen Eben einfach auch schwierig ist, Nachfahre von Tätern zu sein, derjenigen, die am Genozid aktiv beteiligt waren. Und auch hier gibt es nicht immer eine klare Trennlinie. Viele Menschen, die als Teil der Wehrmacht in irgendeiner Form am Genozid beteiligt waren, können gleichzeitig auch im Kleinen widerständisch gehandelt haben. Zum Beispiel, indem sie einen jüdischen Freund gerettet haben. Oder Verfolgte heimlich mit Nahrung versorgt haben.

“There are probably thousands and thousands of stories that we don’t know of of minor resistance, minor things that people did. They are overshadowed perhaps by things, that they did wrong.“

Am Ende machen Krieg und Verfolgung alle Menschen zu Opfern von Gewalterfahrungen, Unterdrückung und Traumata. Auch wenn es bestimmte, notwendige Differenzierungen gibt. Aber es weist uns auf die Verantwortung hin, dafür zu sorgen, dass so etwas eben nicht wieder passiert. Und während wir darüber sprechen, müssen wir ebenfalls feststellen, dass Rechtspopulisten in Europa und den USA wieder auf dem Vormarsch sind und an Macht gewinnen. Und das, obwohl wir bereits wissen, dass die dort verbreiteten Ideologien der Nährboden für Gewalt und Verfolgung sind. Und das auch jetzt bereits sichtbar ist. Denn bestimmte Minderheiten verlieren in diesen Ländern ihren Schutz. Wie zum Beispiel Homosexuelle. Und wir sehen, dass dort häufig auch Frauenrechte wieder beschnitten werden und die Pressefreiheit eingeschränkt.

Wir können nur präventiv tätig werden

Also was können wir tun? Für Nikki Marczak ist es bereits ein Anfang, sich darüber offen auszutauschen. Die Frage, die sich auch viele hier in Deutschland stellen, ist: Wie kann es passieren, dass eine Partei wie die AfD, die offen Ressentiments gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen schürt, wieder so viele Stimmen erhält, obwohl es in Deutschland so viel Aufarbeitung in Bezug auf Nationalsozialismus und Holocaust gab? Und wie kann es sein, dass wir diese Verschiebung nach rechts nicht nur hier, sondern überall auf der Welt beobachten?

Für die Genozidforscherin ist es wichtig, weiter Aufmerksamkeit auf diese Verschiebung zu richten. Und auch auf die sprachliche Verschiebung nach rechts immer wieder hinzuweisen.

„We have to keep raising awareness when we see things, that are happening and pointing out things, pointing out language – and it’s not alarmist to do so. It’s not. It’s not an overreaction to do that, because we have seen this before.“

Nikki Marczak

Jeder kann Täter werden, jeder kann Opfer werden

Eine weitere Erkenntnis aus der Genozid-Forschung: Es kann überall passieren und – jeder kann Täter werden und jeder kann Opfer werden. Und deshalb ist es wichtig, bereits dann aufmerksam zu werden, wenn die Diskriminierung von vermeintlichen Minderheiten zunimmt*. Denn auch wenn zu Beginn eine genau bestimmte, meist kleine Gruppe von Menschen als Sündenbock ausgemacht und verfolgt wird, so breiten sich die Kriterien meist schnell auch, die einen zum Mitglied dieser Gruppe machen. Auch die Nazis unterschieden in Volljuden, Halbjuden, Vierteljuden und sogar Sechzehnteljuden – und zwar indem sie den Diskriminierungsgrad in Stufen unterteilten.

Die Frage, die sich vielen Forschenden in dem Bereich immer wieder aufdrängt ist: Warum tun Menschen sowas? Warum streben Menschen so sehr nach Macht? Und warum wird diese Macht demonstriert, indem verschiedene Minderheiten – die am Ende gar nicht mehr so wenige Menschen, sondern in der Gesamtheit sehr viele betreffen – nicht nur diskriminiert, sondern auch verfolgt und ermordet werden?

Dabei bilden nicht nur politische, sondern auch religiöse Ideologien die Grundlage für diese Machtbestrebungen. Und gerade hier ist die Frage: Wenn die Diskriminierung nicht von einer Regierung ausgeht, sondern von einer anderen Gruppierung – wie im Falle des sogenannten IS – was können Staaten tun, um dagegen vorzugehen?

Und während die einen versuchen, die Taten zu vertuschen, gehen andere hin und brüsten sich mit ihrer Brutalität und dem Erfolg ihrer grausamen Auslöschungsstrategien.

Gruppenbildung durch radikale Diskriminierung

Ein weiteres Phänomen ist die Art und Weise, wie so Zugehörigkeiten gebildet werden. Es scheint ein starkes Bedürfnis von Menschen zu geben, irgendwo fest dazu zu gehören. Das scheint so groß zu sein, dass dafür auch in Kauf genommen wird, andere Menschen zu töten. Es ist eine extreme Form durch Abgrenzung eine Art inneren Zirkel aufzubauen und sich so von denen abzugrenzen, die nicht dazu gehören dürfen.

In diesen Gruppen ist häufig eine eigene Form der Gesetzgebung zu beobachten. Und zwar werden dort Taten nicht bestraft, die in anderen Gesellschaften unter Strafe stehen. Wie zum Beispiel die Ermordung eines Menschen. Solange es der, in den Augen des inneren Zirkels, richtige Mensch ist, also jemand, der den Tod verdient, bleibt der Mord straffrei oder wird sogar noch belohnt.

Diese Willkür zumindest nachträglich zu bestrafen und so Gerechtigkeit für die Opfer von Verfolgung, Diskriminierung und Vernichtungsfeldzügen herzustellen, gelingt nur selten, erklärt Nikki Marczak. Und so bleiben diese grausamen Verbrechen häufig ungestraft. Zusätzlich hat die internationale Gemeinschaft Schwierigkeiten, Kriegsverbrecher als solche zu verfolgen und zu bestrafen.

„There is a lot of theoretical debate and there are a lot of UN resolutions, but not a lot really in terms of achieving really justice for the victims. And so we have this culture of impunity of genocide.“

Nikki Marczak

Es ist allerdings auch sehr schwierig Genozid strafrechtlich zu verfolgen, räumt Nikki Marczak ein. Allein schon die allgemeine Anerkennung der Tatsache, dass es sich um einen Genozid gehandelt hat, ist schwierig, wie zahlreiche Beispiele der jüngeren und älteren Geschichte zeigen. Die Aufmerksamkeit auf das Thema an sich wird größer. Auch in Bezug auf sexuelle Gewalt gegen Frauen in diesem Zusammenhang. Aber wirklich Gerechtigkeit herzustellen für die Opfer, das passiert aktuell kaum.

Aber, auch das sagt Nikki Marzcak, es passiert. Im Kleinen. Wie im Fall der deutschen IS-Rückkehrerin Jennifer W. Im Prozess, der vor dem Münchner Oberlandesgericht verhandelt wird, geht es nicht nur um den Mord an einem fünfjährigen Mädchen. Es geht um den Völkermord an den Jesiden durch den IS. Bislang ein weltweit einzigartiger Prozess, sagt auch die australische Genozidforscherin.

Und genau das ist wichtig. Die Verbrechen als das zu benennen, was sie sind. Denn auch wenn Kriegsverbrechen an sich schon extrem grausam sind, Genozid, also Kriegsverbrechen mit dem Ziel, ganze Bevölkerungsgruppen auszulöschen, geht darüber noch hinaus.

Schon frühe Warnungen im Fall der Rohingya

Nikki Marczak weist an dieser Stelle nochmal darauf hin, wie wichtig es ist, frühe Warnhinweise ernst zu nehmen. Während das Asia Pacific Center for Protection schon frühzeitig mehrer Veröffentlichungen lanciert hat zur Lage der Rohingya in Myanmar und vor den Folgen der zunehmenden Verschärfung des politischen Klimas gewarnt hat, war die Weltöffentlichkeit schockiert und überrascht, als die massenhafte, gewaltsame Verfolgung und Vertreibung der Rohingya öffentlich wurde.

„It wasn’t actually a surprise. There were many various triggers and various warning signs that had been picked up for many years.“

Nikki Marczak

Es gibt also eine Lücke zwischen dem, was Forscher und Menschenrechtsvertreter wissen und was dann passieren muss, um zu verhindern, dass die Lage eskaliert. Für Nikki Marczak ist es deshalb wichtiger möglichst früh präventiv zu arbeiten.

Der Umgang mit harten Themen

Was ich an Nikki Marczak bewundere: Wie sie mit der emotionalen Belastung durch die Arbeit in der Genozidforschung umgeht. Denn auch wenn das in diesem Interview nur selten anklingt – dieser Job ist extrem hart. Denn Nikki Marczak fürht Tiefeninterviews mit Überlebenden und Nachfahren von Genoziden. Sie hat mit einigen jesidischen Frauen Interviews geführt und hat dabei Dinge erfahren, die sich Menschen, die nicht davon betroffen sind, schlicht in ihrer Grausamkeit nicht vorstellen können. Man will es auch gar nicht. Einen kleinen Einblick in diese Arbeit gibt es übrigens in diesem Artikel von Januar 2018, in dem Nikki Marczak über die Überlebensstrategien entführter und versklavter Jesidinnen berichtet: 
https://www.sbs.com.au/topics/life/culture/article/2018/08/01/all-survivors-have-book-inside-their-hearts

Nikki Marczak versucht sich in ihrer Forschung deshalb auf Themen wie Resilienz zu fokussieren. Denn so grausam das Schicksal der Überlebenden oft ist und so krass die Folgen der Traumatisierung, diejenigen, die darüber sprechen sind auf dem Weg der Verarbeitung. Und es ist auch eine Form von Widerstand darüber zu sprechen.

Dabei ist sie immer wieder fasziniert davon, wie gerade Frauen subtile Wege finden, Widerstand zu leisten. Zum Beispiel indem sie ihren Kindern heimlich die verbotene Sprache beibringen. Oder auch, indem sie ihren Kindern beibringen, stolz auf ihre Herkunft zu sein, auch wenn sie dafür in diesem Umfeld keine gesellschaftliche Anerkennung finden. Das gibt ihnen die Kraft, weiterzumachen.

Der eigenen Geschichte verpflichtet?

Was Nikki Marczak an dieser Form des Widerstands besonders fasziniert? Sie denkt oft darüber nach, ob sie selbst in so einer Situation überlebt hätte. Denn auch Nikki Marczak ist Nachfahrin von Überlebenden. Überlebenden des Holocaust in diesem Fall. Und sie fragt sich oft, ob sie die Stärke und den Mut gehabt hat, die ihre Vorfahren gehabt haben. Ihren Großeltern mütterlicherseits ist es gelungen, nach Australien zu fliehen, bevor sie in ein Konzentrationslager abtransportiert werden konnten. Nikki Marczak hat diesen Teil ihrer Familie nicht mehr kennengelernt. Aber aus den Geschichten über ihre Großeltern weiß sie, dass sie sehr darunter gelitten haben, Überlebende zu sein. Im Englischen ist von Survivor Guilt die Rede.

Einige der Geschichten ihrer Großeltern, sind inzwischen zu richtigen Familienlegenden geworden. Wie die ihrer Großeltern mütterlicherseits. Als ihre Familie deportiert wurden, teilten die Nazis ihre Großmutter und deren Geschwister in verschiedene Reihen ein. Während eine Schwester in der Reihe derer landete, die weiter leben sollten, wurden ihre Großmutter und die zweite Schwester in die Reihe derer sortiert, die in die Gaskammer sollten. Als der Nazi-Aufseher sich einen Moment umdreht, wird Nikki Marczak Großmutter von ihrer Schwester in die Reihe derer rübergezogen, die überleben sollen. Die andere Schwester kann sie nicht mehr retten.

„My grandmother had two sisters. And she was in the line with one other sister to be sent to die. And one of the sisters was in the line to live. And her sister grabbed her and pulled her into the life-line.“

Nikki Marczak

Eine Geschichte, die in Familien von Überleben nicht ungewöhnlich ist, sagt Nikki Marczak. Und sie überlegt oft, was würde sie tun in so einer Situation? Hätte sie genau so gehandelt? Wäre es ihr gelungen, Familienmitglieder zu retten? Sie ist sich unsicher.

Wenn ich solche Geschichten höre, dann schäme ich mich regelmäßig. Weil ich weiß, dass sie passieren. Und weil ich trotzdem nicht mehr tue. Mich nicht mehr einbringe. Trotzdem jedes Mal aufs Neue den Mut finden muss, mich dem Entgegenzustellen, was ich sehe und mitbekomme. Vor allem im Netz. Und das, obwohl ich so einen mutigen Großvater hatte, der sich mit allem, mit seinem Leben gegen die Nationalsozialisten gestellt hat.

ANMERKUNG:

*Dieser Satz klingt zynisch, soll aber darauf hinweisen, dass wir eben nicht in einer idealen, sondern in einer realen Welt leben, in der – auch wenn das gesetzlich anders vorgesehen ist, weil wir uns dem Grundgesetz verpflichtet haben – auch dann Diskriminierung vorkommt, wenn wir in einem demokratischen und offenen System leben. Deshalb spreche ich an dieser Stelle von einer Zunahme von Diskriminierung. Nicht, weil ich die bereits stattfindende Diskriminierung marginalisieren will, sondern sie als Tatsache ansehe, die auch in unserer Gesellschaft vorkommt, obwohl sie das nicht sollte.

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